Zum Hauptinhalt springen

Was den Supreme Court so mächtig macht

Von Gastkommentar Martin Weiss

Gastkommentare
Martin Weiss wurde 1962 geboren. Der Jurist begann seine Laufbahn 1990 im österreichischen Außenministerium und war unter anderem Generalkonsul in Los Angeles, Botschafter in Zypern und Israel. Seit 2019 ist er Österreichs Botschafter in den USA. 
© BMEIA/Mahmoud-Ashraf

Das US-Höchstgericht tritt mit vielen Entscheidungen gleichsam an die Stelle des Gesetzgebers.


Der Tod von Höchstrichterin Ruth Bader Ginsburg (deren Großeltern mütterlicherseits übrigens im Jahr 1902 aus dem damaligen Österreich in die USA ausgewandert waren) hat in den Vereinigten Staaten zu einer harten politischen Auseinandersetzung über ihre Nachfolge geführt. Was macht das US-Höchstgericht aber zu einem derartigen Objekt der Begierde der beiden politischen Lager? Was ist tatsächlich so supreme am Supreme Court der USA?

Darüber, ob der US-Supreme Court "das mächtigste Gericht der Welt" ist, wie es der US-Verfassungsrechtler Alexander Bickel genannt hat, ließe sich lange streiten. Tatsache ist aber jedenfalls, dass es dafür, wofür in Österreich drei Höchstgerichte eingerichtet wurden - der Oberste Gerichtshof für Straf- und Zivilsachen, der Verwaltungsgerichthof für Verwaltungsangelegenheiten und der Verfassungsgerichtshof -, in den USA nur ein Höchstgericht gibt, eben den Supreme Court.

Das letzte Wort

Im weltweiten Vergleich sind sowohl Israels oder Indiens Supreme Court als auch das deutsche Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Gerichtshöfe mit weitreichenden Kompetenzen und großem Einfluss. Alle drei treffen sie Entscheidungen, die in ihren jeweiligen Rechtssystemen und Staaten bedeutende Konsequenzen nach sich ziehen. Aber die USA sind nun einmal eine der - wenn nicht die - Führungsmächte der Welt, und der Supreme Court in Washington ist jenes Gericht, durch dessen Entscheidungen das Antlitz der USA bisher nachhaltig geprägt wurde: Ob die Beendigung der Rassentrennung, die Straffreiheit der Abtreibung, die Frage der Zulassung von gleichgeschlechtlichen Ehen oder das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen in Florida (und damit der Wahlsieg von George W. Bush im Jahr 2000) - all diese Weichenstellungen gehen letztlich auf Entscheidungen des US-Höchstgerichts zurück. Und in all diesen Fällen ist der Supreme Court mit seiner Entscheidung gleichsam an die Stelle des Gesetzgebers getreten.

Der österreichische Gesetzgeber kennt für den Fall, dass die Aufhebung eines Gesetzes durch den Verfassungsgerichtshof (VfGH) droht, einen einfachen Ausweg: Er hebt das gefährdete Gesetz in den Verfassungsrang und entzieht es damit der Kontrolle durch den VfGH. So geschehen vor allem in Zeiten großer Koalitionen, die mit der nötigen Zweidrittelmehrheit im Nationalrat ausgestattet waren. Diesen Ausweg hat der Gesetzgeber in den USA nicht. Denn eine Änderung der US-Verfassung verlangt nicht nur eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern des Kongresses (Senat und Repräsentantenhaus), sondern zusätzlich auch noch die Zustimmung von drei Viertel aller US-Bundesstaaten (also von 38 der 50 Staaten). Das ist eine derart hohe Hürde, dass von mehr als 11.000 Versuchen einer Abänderung der US-Verfassung nur eine Handvoll erfolgreich war. Um genau zu sein: In der mehr als 200-jährigen Geschichte der US-Verfassung gab es exakt 27 "amendments" (gleich zehn davon in der "Bill of Rights", einem Grundrechtskatalog aus dem Jahr 1791).

Für den US-Supreme Court bedeutet das aber: Er spricht das letzte Wort. Wenn er etwa entscheidet, dass die Rassentrennung in US-Schulen gegen die US-Verfassung verstößt (wie 1954 in der Entscheidung Brown vs. Board of Education), dann bedeutet dies das Ende getrennter Schulen; kein Gesetzgeber kann das mehr zurücknehmen. Nur das Höchstgericht selbst könnte sich durch eine spätere Entscheidung noch korrigieren. Viel Macht also in den Händen von neun Richtern.

Neun Richter auf Lebenszeit?

Müssen es aber stets neun Richter sein, die - auf Lebenszeit ernannt - von der Bank des Supreme Court aus Recht sprechen? Mitnichten. Weder über die Zahl noch die Qualifikation für das Richteramt verliert die US-Verfassung auch nur ein Wort. Nur eben, dass es einen Supreme Court geben muss. Selbst das ehrwürdige, säulenbewehrte Gebäude in unmittelbarer Nähe des US-Kapitols, wie man es aus vielen Washington-Fotos so gut kennt, besteht erst seit dem Jahr 1935. Bis dahin musste sich der Supreme Court mit Räumlichkeiten im Gebäude des Kongresses begnügen.

Ein einfaches Gesetz genügt also, um die Zahl der Richter des Höchstgerichts der USA zu bestimmen. Tatsächlich schwankte ihre Zahl in der Geschichte der USA zwischen fünf und zehn, seit 1869 sind es eben neun. Der Versuch von Präsident Franklin D. Roosevelt im Jahr 1937, diese Zahl - aus durchsichtigen politischen Gründen - zu erhöhen, scheiterte spektakulär. Der Gerichtshof hatte mehrere Wirtschaftsgesetze der Roosevelt-Administration - mit der der Präsident versuchte, die USA aus der Depression zu führen - aufgehoben. In der Folge wollte Roosevelt den Supreme Court auf 15 Mitglieder vergrößern, im Senat erhielt dieser Gesetzesvorschlag allerdings eine klare Abfuhr von 70 zu 22 Stimmen.

Doch die Diskussion um die Zahl der Richter am Supreme Court erhält mit dem Tod von Richterin Bader Ginsburg und der "blitzartigen" Bestellung ihrer Nachfolgerin Amy Coney Barrett noch kurz vor den US-Wahlen neue Relevanz: Ist nun die Zeit gekommen, die Zahl der Höchstrichter zu erhöhen? Eine demokratische Mehrheit bei den Anfang November gemeinsam mit der Präsidentschaftswahl am 3. November anstehenden Senatswahlen könnte den Weg dafür ebnen. Aber wie man schon aus der griechischen Mythologie weiß: Beim Öffnen der Büchse der Pandora ist große Vorsicht geboten. Was einem heute politisch opportun erscheint, das kann sich bei geänderten Mehrheitsverhältnissen in Zukunft bitter rächen.