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Szenarien für die Zukunft der multikulturellen Gesellschaft

Von Arthur Schneeberger

Gastkommentare

Der westliche Ethnozentrismus und die Herausforderungen des kulturellen Pluralismus.


Vor fast einem Vierteljahrhundert schockte Samuel P. Huntingtons "Kampf der Kulturen" (1996) die Öffentlichkeit mit der Botschaft: Nicht der Systemkampf Kapitalismus versus Sozialismus, sondern die Abgrenzungskonflikte zwischen den großen Kulturen und Religionen sollen die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts bestimmen. Das Buch hätte vermutlich kein breites Interesse gefunden, wenn es nicht kriegerische und terroristische Ereignisse gegeben hätte, die den Nerv vieler Menschen trafen. Auch die weltpolitische Relevanz Chinas und des Islam ist offensichtlich geworden und zeigt dem Westen seine Grenzen auf. Was Huntington (aus seinem anglo-amerikanischen Werthorizont) perhorreszierte, war der Multikulturalismus in den USA und in Europa. Die Realitäten der Einwanderungsgesellschaften weisen aber genau in diese Richtung. Diesem Aspekt sind nachfolgende Ausführungen gewidmet.

Unterschiede oder Konvergenz der Werte in der Weltgesellschaft

Fixpunkt der Weltsicht Huntingtons war die Annahme, dass Religionen jeweils unterschiedliche verdichtete Normen und Werte, also absolute Moralvorstellungen, enthalten. Daneben konzedierte er minimale transkulturell akzeptierte Vorstellungen von Wahrheit und Gerechtigkeit. Damit ist Huntington in die Kritik aller jener Philosophen und Theologen geraten, denen das Telos einer Weltgesellschaft mit universalen Werten und Normen unverrückbar erschien.

Weniger öffentliche Beachtung fand, dass Huntington seine Meinung später etwas relativierte, indem er für eine sehr ferne Zukunft Ansätze einer universalen Kultur nicht mehr ganz ausschloss. Zudem sah er eine Konvergenz seiner Kulturkreistheorie mit der verbreiteten wirtschaftlichen Modernisierungstheorie und deren Werteforschung: Diese zeige die Unterschiede der Zivilisationen empirisch auf, die er nur in groben Zügen identifiziert habe, schrieb er 2002.

Die international vergleichende Werteforschung von Ronald Inglehart und anderen behauptet nicht mehr und nicht weniger als eine mit dem technisch-wirtschaftlichem Fortschritt einhergehende Konvergenz der Wertvorstellungen weltweit. Der Wohlstand (etwa gemessen als BIP pro Kopf) führe dazu, dass sich Gesellschaften von den Überlebenswerten in archaischen Familien-, Sippen- und Stammesbindungen (wie in armen afrikanischen oder asiatischen Ländern) zu Selbstartikulationswerten hin kulturell und politisch transformieren. Hierzu zählen zwischenmenschliches Vertrauen über Familie und Sippe hinaus, Toleranz und Teilhabe an Entscheidungsprozessen.

Am deutlichsten sollen diese in protestantischen und nordeuropäischen Ländern verbreitet sein (Beispiele: Schweden, Niederlande). In dem Maße, in dem Menschen unter Bedingungen eines als selbstverständlich geltenden Überlebens aufwachsen, sollen sich Selbstartikulationswerte ausbreiten, und zwar langfristig weltweit und transkulturell, trotz da und dort noch erkennbarer Widerständigkeit traditionaler Kulturen und Religionen oder autoritärer Regime.

Dem Glauben an einen weitgehend monokulturellen Wertewandel weltweit hat der US-Anthropologe Richard A. Shweder widersprochen. Die Frage, wessen Ideale als Maßstab für gutes Leben ausgewählt werden sollen, dürfe nicht einseitig im Sinne der westlichen Zivilisation beantwortet werden. Der Anthropologe versteht sich als kulturellen Pluralisten, den das modernistische Fortschrittsnarrativ (Science ersetzt Religion, Verschwinden der Stammeskulturen) nicht überzeugt, er kontert mit der nachfolgend umrissenen Gegenposition:

Der Multikulturalismus ist ein "unumstößliches Faktum".

Die Entwicklung des globalen Weltsystems kann vom Entstehen ethnischer oder kultureller Erweckungsbewegungen auf lokaler Ebene begleitet werden.

Viele leben heute in Nationalstaaten, die aus Gruppen und Gemeinschaften bestehen, "deren Überzeugungen miteinander unvereinbar sind".

Zwei-Schichten-Sozialstruktur der Weltgesellschaft

Das Faktum multikultureller Bevölkerungen innerhalb von Staatsgesellschaften werde "auch in Zukunft so bleiben, und sei es nur darum, weil die globale Migration eine Realität ist und weil Gemeinschaft und Gottheit wesentliche Güter sind, die um der individuellen Identität und des menschlichen Fortschritts willen anerkannt werden müssen". Um das inhärente Konflikt- und Gefahrenpotenzial der multikulturellen Gesellschaft zu mindern (besonders für Angehörige von Migranten- oder Minderheitsgruppen in multikulturellen Staaten), fordert er ein besonderes pluralistisches Kulturverständnis. Als echte Kultur, die Wertschätzung verdient, definiert er eine Lebensweise, die gegen Kritik von außen verteidigt werden kann.

Weltgesellschaftlich könnte sich eine Zwei-Schichten-Struktur entwickeln: hier die kosmopolitischen Liberalen, "die darin geschult sind, Wertneutralität und kulturelle Vielfalt zu schätzen, und die die globalen Institutionen des Weltsystems verwalten werden", da die lokalen Nichtliberalen, die sich der "dichten Ethnizität" verschrieben haben. Wirtschaftliche Entwicklung werde aber nur dann universell stattfinden können, wenn dies nur die Inkorporation der "dünnen Aspekte" der westlichen Kultur erfordere (wie Waffen, Informationstechnologie, Kreditkarten), wenn wirtschaftliches Wachstum aber davon abhänge, "dass man die tiefen oder dichten Aspekte der westlichen Kultur (wie Individualismus, Ideale der Weiblichkeit, Egalitarismus, Bill of Rights) akzeptiert, werden die Kulturen nicht konvergieren und sich wirtschaftlich nicht entwickeln, weil ihr Identitätsbewusstsein stärker sein wird als ihr Wunsch nach materiellem Wohlstand", so Shweder.

Nehmen wir diese zwei Szenarien ernst, so ergeben sich weitreichende Herausforderungen für die kulturell pluralistischen Einwanderungsgesellschaften - vor allem im Hinblick auf Religionsfreiheit, Toleranz und Respekt für unterschiedliche Lebensstile und Andersgläubige. Auch überzogene Assimilationsvorstellungen können relativiert werden. Nicht jede ethno-kulturelle soziale Differenzierung führt zu Parallelgesellschaften, die unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung bedrohen, sondern ist oft einfach Ausdruck eines kulturellen Pluralismus.

Für die Zukunft ist nicht nur weiterhin mit zähen säkularisierungsbezogenen Debatten, sondern zunehmend mit Differenzierungen innerhalb der Zugewanderten im Hinblick auf beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg und in der Folge in der religiösen Interpretation der richtigen Lebensführung zu rechnen. Das sollte positive Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben. Das Bildungs- und Berufssystem vermittelt nicht nur Qualifikationen unabhängig von der Herkunft, sondern stützt damit auch die Institutionalisierung des Säkularismus in der pluralistischen Gesellschaft.