Kommt ein zweiter Lockdown? Hoffen wir es nicht. Im Frühjahr haben wir gesehen: Eine Gesellschaft unter Quarantäne zu stellen, ist zwar brutal, aber relativ einfach. Viel schwieriger ist es, während der Pandemie Gesellschaft und Wirtschaft nur punktuell durch gezielte Maßnahmen einzuschränken, die möglichst passgenau die Verbreitung der Infektion hemmen. Denn genau diese Auswahl der passendsten Maßnahmen leidet an Informationsarmut - deutlich verschärft durch die großen US-Datenkraken. Das wurde den politischen Entscheidungsträgern in Europa seit April so richtig bewusst.

Thomas Ramge ist Sachbuchautor und als Wirtschaftsjournalist für die Magazine "brand eins" und "The Economist" tätig. - © Peter van Heesen
Thomas Ramge ist Sachbuchautor und als Wirtschaftsjournalist für die Magazine "brand eins" und "The Economist" tätig. - © Peter van Heesen

Erinnern wir uns: Im April diskutierten Regierungen, Wissenschafter und Techniker darüber, wie Tracing-Apps dazu beitragen können, die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Apps sollen einerseits Menschen informieren, wenn sie mit einem Infizierten Kontakt hatten. Eine Reihe von Staaten möchte aber auch in anonymisierter Form über die Tracing-App Informationen über die regionale Infektionsdynamik bekommen, um viel zielgenauere örtlich und zeitlich begrenzte Maßnahmen zu wählen.

Viktor Mayer-Schönberger ist Rechtswissenschafter am Oxford Internet Institute tätig. Er berät Unternehmen, Regierungen und internationale Organisationen. - © Peter van Heesen
Viktor Mayer-Schönberger ist Rechtswissenschafter am Oxford Internet Institute tätig. Er berät Unternehmen, Regierungen und internationale Organisationen. - © Peter van Heesen

Darum verhandeln europäische Regierungen mit den US-Konzernen Google und Apple. Denn diese beiden Unternehmen dominieren den Markt der Smartphone-Systeme. Ihre Hilfe und Unterstützung sind notwendig, um Tracing-Apps sinnvoll einsetzen zu können. Sonst funktioniert die Abstandsmessung nicht, und die App findet sich nicht im App-Store. Zur Überraschung der europäischen Regierungsbeauftragten lehnen die kalifornischen Duopolisten ab und übernehmen eine Rolle, in der sich üblicherweise der europäische Datenschutz wohlfühlt: als Missionar der Datensparsamkeit. Die Kehrtwende der kalifornischen Unternehmen Richtung Schutz von Privatheit vollzog sich ausgerechnet im Kontext einer Frage, deren Beantwortung in Demokratien bei gewählten und (hoffentlich) wissenschaftlich gut beratenen Gesundheitspolitikerinnen und -politikern liegt: Wie können wir in einer Pandemie mit den Möglichkeiten digitaler Technologie das Leben von Bürgerinnen und Bürgern schützen?

US-Unternehmen untersagten Informationsflüsse in Europa

Wir müssen in Europa endlich eine offensive Antwort auf die Machtkonzentration durch Informationsasymmetrien finden. - © Illustration: stock.adobe/brand.punkt
Wir müssen in Europa endlich eine offensive Antwort auf die Machtkonzentration durch Informationsasymmetrien finden. - © Illustration: stock.adobe/brand.punkt

Im heurigen Mai war klar, dass europäische Regierungen keinen Zugang zu den Informationen bekamen, mit denen sie diese wichtigen Entscheidungen treffen wollen. US-Unternehmen untersagten faktisch demokratisch legitimierte Informationsflüsse in Europa. Vereinfacht gesagt: Nicht Rudolf Anschober, Emmanuel Macron oder Ursula von der Leyen entscheiden darüber, welche Informationen von wem wie zur Bekämpfung der Pandemie genutzt werden können. Diese Entscheidung treffen stattdessen die US-Manager Tim Cook und Sundar Pichai.

Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger: Machtmaschinen - Warum Datenmonopole unsere Zukunft gefährden und wie wir sie brechen Verlag Murmann; 208 Seiten; 20,60 Euro
Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger: Machtmaschinen - Warum Datenmonopole unsere Zukunft gefährden und wie wir sie brechen Verlag Murmann; 208 Seiten; 20,60 Euro

Da ist dann in der Praxis nicht mehr viel übrig von der digitalen Souveränität Europas. In den politischen Zirkeln Europas glauben manche, ein probates Rezept gefunden zu haben, diese Souveränität wiederherzustellen. Die Idee ist, den Plattformen aus den USA und Asien Konkurrenz zu machen, indem man viel Steuergeld in die Hand nimmt und ein digitales Parallelangebot aufbaut: zentralistische Online-Plattformen aus Europa, oder - wie es in der Politik heißt - einen europäischen Digital-Airbus.

Das mag für Freunde klassischer Industriepolitik des 20. Jahrhunderts verlockend klingen und verheißt einen Geldregen für einige wenige ausgewählte Unternehmen. Aber es ist die grundfalsche Antwort auf die digitale Herausforderung, vor der Europa steht. Denn die großen Online-Plattformen vermindern nicht nur Wettbewerb, indem sie Marktkonzentration befördern. Viel schlimmer ist, dass sie der Wirtschaft die Fähigkeit zur Innovation rauben.

Joseph Schumpeter, der große österreichische Nationalökonom, hat vor fast einem Jahrhundert sehr klar erkannt, dass große Unternehmen meistens billiger produzieren können. Sie profitieren von Skaleneffekten und gewinnen Marktanteile. Dieser Marktkonzentration steht aber der Ideenreichtum der Menschen entgegen. Weil gute Ideen in Start-ups und im Mittelstand mindestens so häufig sind wie in den ganz großen Unternehmen, gelingt es den kleinen, aber kreativen, den ideenreichen und agilen Firmen mitunter, selbst gegen ganz große Konkurrenten erfolgreich zu sein. Innovation ist das Gegengewicht zu Skaleneffekten und Marktkonzentration. Durch Innovation können auch Kleine ganz groß werden und Große wieder ganz klein - oder ganz verschwinden. Das ist Schumpeters "kreative Zerstörung".

Der Mechanismus schöpferischer Innovation funktionierte sehr lange gut. Aber heute reicht immer öfter eine gute Idee nicht mehr aus. Im Datenzeitalter braucht es neben der guten Idee auch ausreichend viele Daten, um durch Datenanalyse und Künstliche Intelligenz die gute Idee in eine marktfähige Innovation umzuwandeln. Ob selbstfahrende Autos, ein neues Antibiotikum oder auch nur ein gutes Programm zur Rechtschreibprüfung: Überall braucht es zur guten Idee noch ausreichend Trainingsdaten. Aber zu derartigen Daten haben kleine und mittlere Unternehmen keinen Zugang. Die großen Machtmaschinen saugen die Daten ab und nutzen sie ausschließlich selbst. Damit sind die Big-Tech-Unternehmen laut objektiven Kennzahlen keineswegs so innovativ, wie sie die Welt glauben machen.

Wir müssen den Zugang zu Informationen für alle öffnen

Wir stehen kurz vor Schumpeters Albtraum: einer Welt, in der nur wenige Unternehmen riesige Datenmengen haben und damit Märkte beherrschen, während Innovation und Wettbewerb verkümmern. Die Zukunft Europas kann nicht darin liegen, Amerika und Asien in dieser wirtschaftlich und gesellschaftlich gefährlichen Konzentrationsbewegung nachzueifern. Das passt auch gar nicht zur wirtschaftlichen Struktur Europas, die von kleinen und mittelständischen Unternehmen geprägt ist.

Wir müssen in Europa endlich eine offensive Antwort auf die Machtkonzentration durch Informationsasymmetrien finden. Wir müssen die Informationsmächtigen verpflichten, ihre Informationsschätze mit anderen zu teilen - und zwar alle Informationsmächtigen, egal ob sie aus den USA, China oder Europa kommen. Wir müssen den Zugang zu Informationen für alle öffnen: für Bürger, Wissenschafter, Start-ups und innovative Mittelständler, Gesundheitsbehörden und Umweltschützende.

Ein weltweit offener Zugang zu Daten ist aus heutiger Sicht, in Zeiten eines Tech Cold War zwischen den digitalen Supermächten USA und China und hybrider Cyber-Kriegsführung aus Russland, eine hübsche Utopie ohne realistische Umsetzungschance. Ein offener europäischer Datenraum, dem sich die innovativen Volkswirtschaften Asiens und des globalen Südens anschließen können, ist jedoch eine ökonomische und gesellschaftliche Großchance. Er bietet Europa die Chance auf einen digitalen Befreiungsschlag. Aus Machtmaschinen in den Händen weniger werden Ermächtigungsmaschinen für alle, die mit Informationstechnologie kompetent umgehen können.

Europa könnte sich dann - in bester Gedankentradition Schumpeters - als innovativster Kontinent der Welt neu erfinden, weil eben dank geteiltem Datenreichtum die wichtigste Ressource der Welt im Überfluss für alle vorhanden wäre. Europa würde nicht mehr seine klügsten Datenwissenschafter an US-Unternehmen verlieren, es würde die klügsten Talente aus aller Welt anziehen, weil sein Angebot für innovative Menschen kaum schlagbar wäre: kulturelle Vielfalt, Demokratie, sozialer Zusammenhalt und oben drauf noch die besten Bedingungen, mit Daten das Neue in die Welt zu bringen.