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Europas Einsatz ist zu gering

Von Rainer Stepan

Gastkommentare

Die Region Bergkarabach ist zu befrieden. Das kann nur mit Zustimmung beider Seiten gelingen - doch keine ist bereit, sich zu bewegen. Die EU agiert außenpolitisch blind, inaktiv und ideenlos.


Die Ostukraine-Frage, ebenso wie eine realpolitisch erreichbare Lösung für die Krim, als auch Abchasien oder nunmehr blutig aktuell wieder Bergkarabach: Alle diese Konfliktherde vor der Tür Europas - von den Flüchtlingsfragen, der innenpolitischen Krise im Libanon, dem Syrien- und dem Jemen-Krieg ganz zu schweigen - müssten im Sinne Europas schon seit Jahren mit Ideen europäischer außenpolitischer Gehirne Schritt um Schritt zu lösen versucht worden sein, im innenpolitischen Desaster des Libanon müssten seitens Europa Kompromisse angeboten werden, die auf historischer Erfahrung beruhen und somit eine Aussicht auf nachhaltige Stabilisierung der jeweiligen Situation haben.

Europa überlässt weiter Russland und der Türkei alle diese Konfliktherde, die von diesen beiden ja teilweise auch gewollt sind und ein- oder beidseitig unterstützt werden. All dies geschieht vor dem grausamen Stellvertreterkrieg Saudi-Arabiens mit dem Iran im Jemen.

Hier zeigt sich mehr denn deutlich, dass der Gemeinsame EU-Rat nicht nur die späte Fehlinstitution der Europäischen Union ist, sondern - weil von immer mehr nationalistisch-populistischen Regierungen dominiert - zum Krebsgeschwür der EU mutieren könnte. Fakt ist, dass gar nichts geschieht. Diese Inaktivität der EU zeigt sich auch gegenüber ganz Nordafrika sowie den Ländern der Subsahara, woher die meisten Flüchtlinge - abgesehen vom Nahen und Mittleren Osten - nach Europa kommen. Auch gegenüber China gibt es keine Strategie betreffend die Einkaufspolitik der Volksrepublik in Europa, um schließlich auch unseren Subkontinent abhängig zu machen.

Seit Beginn der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts wären Chancen da gewesen, von Europa aus "Seidenstraßen" bis zur chinesischen Grenze in die Länder Zentralasiens zu führen, um den Menschen dort, die sich als Europäer empfinden, beim Aufbau von deren Wirtschaften zu gegenseitigem Nutzen zu helfen. Jetzt breitet sich auch dort der politische Islam immer weiter aus, weil die große Mehrheit der Völker im Vorhof Chinas ökonomisch kaum Zukunftsperspektiven erkennen kann. Wo ist Europa in Usbekistan, Kirgisistan, Turkmenistan, ja, teilweise in Kasachstan mit seiner fossilen Energie? Man überlässt dies alles China - das noch bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts dort gewütet, Städte niedergemacht und die Menschen massakriert hat - oder der alten Kolonialmacht Russland.

Aktuell ist Bergkarabach in den Fokus gerückt, eine Region östlich von Armenien, in der die überwiegende Mehrzahl der Bewohner armenisch war, bevor es zum Krieg während des Zerfalls der Sowjetunion 1990 bis 1994 kam. Mit russischer Unterstützung gewann Armenien, auch die zwischen der Republik Armenien und Bergkarabach gelegenen aserischen Regionen wurden besetzt und deren Bewohner vertrieben. Aserbaidschan hingegen hat schon in den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts armenische Bewohner im Land zu töten und zu vertreiben begonnen (1988 Massaker in Sumgait), von denen es damals in der Hauptstadt Baku und anderen Kommunen noch zahlreiche gab. Alle Armenier mussten während und nach dem Krieg Anfang der 1990er Jahre aserisches Territorium verlassen, vice versa die Aseris armenische Gebiete. Diese ethnischen Säuberungen waren Unrecht, grausam und unmenschlich.

Ohne Russland geht es nicht

Dazu sollte man wissen, dass der sowjetische Diktator Josef Stalin und seine Nachfolger liebend gern ethnisch mehrheitliche Enklaven Staaten mit anderen ethnischen Mehrheiten zugeteilt haben; auf kirgisischem Territorium etwa wird eine usbekische Enklave mehrheitlich von Tadschiken bewohnt. Und so gibt es auch südwestlich von Armenien, angrenzend an den Iran, die aserische Enklave Nachitschevan, in der die Aseris alles zerstören, was an das reiche kulturelle Leben der vertriebenen Armenier erinnert. Außerdem betreibt das aserische Regime unter Präsident Ilham Aliyev seit Jahr und Tag völlig geschichtsfälschende Gräuelpropaganda gegen Armenien, um die eigene Bevölkerung zum Hass gegen die Nachbarn zu erziehen.

Der Autor dieser Zeilen war als Wahlbeobachter im April 1991 bei der Wahl des georgischen Präsidenten Swiad Gamsachurdia im Einsatz und konnte sich damals im östlichen Georgien überzeugen, dass in dieser Region Georgier, Aseris und Armenier friedlich miteinander lebten, während wenige Kilometer weiter Armenier auf Aseris schossen und umgekehrt.

Was könnte nun unter Druck Russlands sowie der EU - die USA sind derzeit abgemeldet - versucht werden? Zum Beispiel, Bergkarabach als souveräne Entität anzuerkennen, mit einem exakt ausgearbeiteten Konzept, wie dann die ehemaligen Mitbewohner unter welchen Bedingungen mit entsprechenden Beiprogrammen zurückkehren oder entschädigt werden könnten. Um Russland jedoch dazu zu bringen, in diese Richtung aktiv zu werden, müssten sofort vertrauensbildende Maßnahmen - trotz Vorfällen wie der Causa Alexej Nawalny - starten, die zu einer einvernehmlichen Lösung in der Ostukraine-Frage führen könnten.

Ein Blick in den historischen Atlas zeigt, wo es im zaristischen Russland Industrie gab: nämlich ausschließlich in Donezk und Lugansk. Derzeit de facto über Stellvertreter russisch besetzt, sollte aus dieser Region eine prosperierende, gemeinsam verwaltete russisch-ukrainische Wirtschaftszone auf souveräner ukrainischer Erde aufgebaut werden; weder Russland noch die Ukraine haben die dazu notwendigen Mittel, um diese völlig zerstörte Region wieder aufzubauen - mit Hilfe der EU wäre es möglich.

Stabilität nutzt Europa

Und Europa müsste interessiert sein, dass im Südkaukasus à la longue eine der EU ähnliche, zumindest gemeinsame Wirtschaftsunion entsteht, da es die einzige direkte Landverbindung ist, um beispielsweise an Erdöl und Erdgas von Aserbaidschan und Turkmenistan heranzukommen (man erinnere sich an das "Nabucco"-Projekt der OMV), ohne über russisches Territorium leiten zu müssen. Diese Union sollte aus den drei Ländern des Südkaukasus sowie zwei souveränen Entitäten - Bergkarabach und Abchasien; ein dritter Kandidat wäre die Autonome Republik Nachitschewan - bestehen. Damit könnten gemeinsame Wirtschaftsstrukturen geschaffen, auch gemeinsame Kulturprojekte sowie peu à peu gemeinsame politische Strukturen aufgebaut werden.

Ohne Russland geht bei diesem Vorhaben nichts; daher müsste ihm die Krim auch offiziell zugestanden werden, verbunden mit einem UN-Schutzmachtstatus der Ukraine gegenüber den Krim-Tartaren. Damit bekäme der russische Präsident Wladimir Putin zwei großartige Geschenke von Europa, die ein Vertrauens- und Kooperationsfeld darstellten, auf dem die ursprünglichen Abkommen und Initiativen nach dem Zerfall der Sowjetunion kurzfristig begonnen, aber großteils von Europa einseitig zerstört wurden, wie etwa die "Partnerschaft für den Frieden".

Russland hat im Südkaukasus viele Möglichkeiten, so es diese einbringen will. Für Putin ist ein einiger Südkaukasus nicht unbedingt ein geliebter Partner, weil realpolitisch dann eine Konkurrenz. Außerdem muss die Türkei ins Boot geholt werden, denn die Aseris werden sich ohne Zustimmung aus Ankara nicht von ihrer derzeitigen Position wegbewegen. Das sehr restriktive diktatorische Regime Aliyevs lebt vom außenpolitischen Konflikt, um die eigene Bevölkerung hinter sich zu scharen. Hier wartet also diplomatische Mühsal auf vielen Ebenen. Trotzdem: Beginne, Europa, und wach endlich auf! Das "christliche Europa" müsste größtes Interesse haben, in seiner östlichen Nachbarschaft friedlich miteinander lebende Muslime und Christen zu wissen.