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Die Anleihemärkte blicken auf das Weiße Haus

Von Ariel Bezalel und Harry Richards

Gastkommentare

Ein knapper Sieg Bidens erscheint als schlechtestes Ergebnis für Risikoaktiva.


Der endgültige Sieger der US-Wahl ist immer noch ungewiss, aber der Reflationshandel, der von den Märkten mit Blick auf Joe Biden zunehmend eingepreist worden war, beginnt sich bereits zu entspannen, da die Investoren die Risiken neu einschätzen. Die Märkte hatten sich auf einen eindeutigen Sieg Bidens und der Demokraten eingestellt. Viele Investoren hatten zuletzt auf einen Kursanstieg bei Rohstoffen sowie Kursverluste beim US-Dollar und US-Treasuries gesetzt, in der Hoffnung, dass höhere fiskalische Anreize unter einer demokratischen Präsidentschaft mit einer gemeinsamen Mehrheit in Kongress und Senat Wachstum und Reflation fördern würden.

Aber wieder einmal scheint es, als hätten sich die Umfragen geirrt und der Markt sich selbst übertroffen. Einen Erdrutschsieg Bidens gab es nicht. Donald Trumps aggressive Kampagne scheint von den meisten Marktkommentatoren unterschätzt worden zu sein. Ohne einen klaren, allgemein akzeptierten Wahlsieger mit einer Mehrheit im Senat werden die Aussichten, große fiskalische Stimuli effektiv durchzusetzen.

Zu diesem Zeitpunkt scheint ein knapper Sieg Bidens das schlechteste Ergebnis für Risikoaktiva zu sein - selbst wenn sie einen anfänglichen Aufschwung erleben -, da dies wahrscheinlich langwierige Verzögerungen bei der Durchsetzung fiskalischer Anreize neben höheren Steuern für Unternehmen und vermögende Privatpersonen bedeuten würde. Gegenüber dieser Unsicherheit hat sich der US-Dollar gefestigt, und US-Treasuries haben zugelegt. Da die Anleiherenditen einbrachen, flüchteten die Märkte wieder einmal ins hohe Wachstumspotenzial des Technologiesektors, was die Aktienindizes in die Höhe treibt. In den kommenden Wochen ist eine erhöhte Volatilität zu erwarten.

Unsicherheit ist nie gut für die Risikostimmung, und das Risiko, dass sich der Reflationshandel weiter abschwächt, erscheint hoch. In diesem Umfeld gehen wir davon aus, dass US-Dollar und US-Treasuries weiter an Stärke gewinnen werden, da die Nachfrage nach Anlagen in sicheren Häfen steigt. Eine Anfechtung des Ergebnisses würde die Volatilität noch erhöhen. Bei einem knappen Sieg einer der beiden Parteien fühlt sich ein großer Teil der US-Bevölkerung in gewisser Weise benachteiligt, was zu weiteren gesellschaftlichen Problemen führen könnte.

Auf längere Sicht wird wohl jedes Konjunkturpaket unabhängig vom endgültigen Sieger Verzögerungen und Behinderungen unterworfen sein. Gerade zu dem Zeitpunkt, an dem es am dringendsten benötigt wird, dürfte sich bis zur Verabschiedung des Gesetzes eine große Lücke auftun. Darüber hinaus werden die realwirtschaftlichen Auswirkungen höherer Haushaltsausgaben wahrscheinlich nur von kurzer Dauer sein und nicht zur von vielen erhofften Reflationsgeschichte führen: Je höher die Staatsverschuldung, desto weniger Auswirkungen haben die Staatsausgaben auf eine Volkswirtschaft.

Die Spannungen mit China scheinen so oder so zu eskalieren: Unter einer weiteren Amtsperiode Trumps wäre ein Wiederaufflammen der Handelskriege zu erwarten - aber auch, falls Biden als neuer Präsident gegenüber China Menschenrechtsfragen aufs Tapet brächte. In der Zwischenzeit zeichnet sich eine extremere Geldpolitik ab, die tiefgreifende gesellschaftliche Probleme wie Einkommensungleichheit und starke politische Spaltungen weiter verschärfen könnte.