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Armenien: Friede oder Friedhof

Von Herbert Maurer

Gastkommentare

Ein Versuch, das Desaster in Bergkarabach zu erklären. Mit der sowjetischen Teilungspolitik hat alles begonnen, der erste Karabach-Krieg vor 30 Jahren brachte keine Lösung, aber neue Verhältnisse. Nun geht es mit viel Blutvergießen weiter.


"Wir alle sind auf der Suche nach dem Menschen, nach Gottes geliebtem Geschöpf. Wir sind auf der Suche: In uns, in den Menschen, die wir lieben, aber auch in unseren Feinden . . . Was wir stattdessen finden und erfahren - immer wieder -, sind Angst, Wut und Hass. Das ist auch in diesen letzten Tagen in meiner uralten Heimat Armenien, in Karabach, der Fall. Es herrscht Krieg. Seit vielen Jahrhunderten haben im Kaukasus unterschiedliche Völker zusammengelebt und tun es bis heute: Wir, als das älteste christliche Volk der Welt, haben in dieser zum Teil so unwirtlichen Landschaft viel Schmerz und Zerstörung erleben müssen, aber stets versucht, das Paradies auch zwischen den Steinen zu finden, so leben wir das Bekenntnis zu unserem Gott, für den wir alle eine Familie sind." (aus dem Friedensgebet des armenischen Bischofs in Wien im Oktober 2020)

Wo war ich da um alles in der Welt hingeraten, im Jänner 1989, mitten im Kaukasus, den heiligen Ararat vor mir, das gemütliche Österreich weit hinter mir? Ein Erdbeben hatte vor wenigen Wochen ein Drittel Armeniens verwüstet. Auch über der Hauptstadt Jerewan war der Trümmerstaub niedergegangen. Es gab kaum Strom und Wasser, keinen öffentlichen Verkehr, kaum Lebensmittel. Mitten in dieser Düsternis waren Zehntausende auf dem Platz vor der Oper versammelt und skandierten: "Getse Karabach!", "Getse Artsach!", oder "Sumgait!"

Gleich bei meiner Ankunft auf dem völlig chaotischen Flughafen mit dem kryptischen Namen Swartnots (Ort der Engel) hatte ich zum ersten Mal etwas Konkretes über Bergkarabach gehört. Eine Enklave im benachbarten Aserbaidschan, seit 2000 mehrheitlich von Armeniern bewohnt. Auf den Platz vor der Oper war ich direkt aus der Erdbebenregion gekommen und fand mich zwischen Menschen wieder, die der Opfer eines Massakers vor einem Jahr in Sumgait gedachten, das die Aseris an ihren armenischen Mitbürgern verübt hatten. Ich zwischen den frierenden Einwohnern der Hauptstadt, die zugleich für die Opfer des Erdbebens beteten und für ihre Feinde von damals und heute, die in Zeiten des Ausnahmezustandes im Nachbarland erst recht alles daransetzten, die Bevölkerung aus Karabach zu vertreiben.

Wo war ich da um Gottes willen hingeraten? Da gab es offenbar Menschen, die nach sieben Jahrzehnten Kommunismus und dem ersten Völkermord des vergangenen Jahrhunderts das Christentum groteskerweise todernst nehmen konnten. Die Bedrohung Karabachs war ähnlich katastrophal wie die Verwüstung im eisigen Norden des Landes, beides ging im wahrsten Sinn des Wortes an die Substanz. Bisher war das kleine Armenien im Riesenreich Sowjetunion so etwas wie das "kleine gallische Dorf" gewesen, das sich mit Galgenhumor - ach, diese "Radio Jerewan"-Witze - durch die Grausamkeit der Weltgeschichte durchgerettet hatte.

Würde statt Krieg

Nun stand das selbstbewusste Kulturvolk - was für ein Touristenpathos - am Rand eines weiteren finanziellen Desasters. Was waren Kultur und Religion nun wert, wozu das Brimborium - hielten sie, was sie versprachen? Da gab es keinen Ausweg, auch die exorbitante Hilfe aus dem Ausland war lächerlich. Wozu sollten die Armenier das aushalten? Einfach umdrehen und gehen, sich in den Flieger setzen und von der Tante in London einen Tee servieren lassen, oder beim Cousin in Marseille unterkommen, fischen gehen und abends den Reserve-Aznavour mimen? Vielleicht ließe es sich auch mit dem Stiefbruder in Los Angeles mit dem Taxi um die Wette fahren oder in Potsdam Seminare über Kernphysik halten. Auch als Provinzpolitiker in Kasachstan wäre vielleicht noch ein Posten frei.

Nichts von alledem. Viele hatten diese Möglichkeiten und haben sie bis heute, doch nur wenige nutzten sie, um stattdessen im Schutt, der noch nach Leichen roch, nach Manuskripten oder Kinderspielzeug zu graben, die Feinde zu lieben und den ausländischen Helfern, darunter auch mir, beizubringen, wie Granatapfelwein zubereitet wird. Wie hielten diese Menschen damals vor 30 Jahren in dieser Absurdität eines widersinnigen Überlebens die Balance? Da konnten Folklore, die paar kommunistischen Tugenden - Ehre der Arbeit, auf in eine bessere Welt etc. - banale Sturheit, Galgenhumor und was es sonst noch alles gibt, auch nicht helfen, um das Unerträgliche erträglich zu machen. Mit Sentimentalität und Heimatkitsch war da auch nichts auszurichten.

Ähnliche Worte wie damals der Geistliche auf dem staubigen Opernplatz fand nun auch rund 30 Jahre später, hier in Österreich, der armenische Bischof bei einem ökumenischen Gebet für die Menschen im Krieg - und er ergänzte diesen absurden Appell zur Feindesliebe noch um ein paar Zeilen, die zum Kulturgut der Wiener Aufklärung gehören, aus Joseph Haydns "Schöpfung":

"Mit Würd’ und Hoheit angetan, mit Schönheit und mit Mut begabt, steht der Mensch als König der Natur . . ."

Nun, in Wien lässt es sich ziemlich leicht pathetisch sein und sehr friedensbewegt über den Frieden nachdenken, wenn das Essen schmeckt und der Tod vor längst vergangenen Zeiten einmal ein Meister aus Deutschland gewesen sein soll, wie man eifrig und betroffen und ein bisserl verlogen noch herunterbetet - Kitsch geht immer.

Das Karabach-Komitee

Und wieder drängt sich mir die Frage von vor 30 Jahren auf. Wie konnten diese nicht einmal drei Millionen Menschen in diesem Wahnsinn die Balance halten? Der erste Ansatz, einer Beantwortung dieser Frage wenigstens einen Hauch näher zu kommen, waren für mich die Begegnungen mit einigen Mitgliedern des damals neu entstandenen Karabach-Komitees, einer ziemlich inhomogenen Gruppe politisch umtriebiger Intellektueller, poetisch angehauchter Abenteurer, spartanischer Öko-Bewegten und Hütern der Schätze von Kultur und Religion. Diese ziemlich überschaubare Bürgerbewegung wurde von der träge vor sich hin kollabierenden Sowjetunion im wahrsten Sinn des Wortes todernst genommen, ausgerechnet im Chaos von Glasnost und Perestrojka. Deshalb und spätestens nach den ersten Verhaftungen und den ersten Wochen im Gefängnis in Moskau mussten auch die Mitglieder des Komitees sich und einander ernst nehmen, vor allem aber: Sie wurden von ihren Landsleuten in ihrer politischen Verantwortung ernst und in die Pflicht genommen.

Auch wenn damals und wohl auch heute in Bergkarabach niemand die Muße hat, Haydns Arie von der Würde des Menschen zu singen; irgendwie verkörperte das Komitee in seiner Vielschichtigkeit die Balance zwischen Verstand und Demut, geschmeidiger Vernunft und Pragmatismus, humoristischer Skepsis gegenüber dem Wahren und Schönen und einem Glauben, der seine Hoffnung auch zu leben versteht. In den damaligen Chaoszeiten gab es nicht wirklich ein Konzept, ein ausgefeiltes und ausdiskutiertes Programm, wie eine Gesellschaft zwischen Hunger, Not und Massaker so nach und nach rekonstruiert werden könnte, aber: Das Komitee stand für Selbstbewusstsein, für einen neuen Staat und eine entstaubte Kultur, ohne die Religion ganz zu vergessen.

Es ist nicht schwer zu erraten und war es damals schon nicht, obwohl ich alles andere war als ein feinnerviger, weltgewandter Politologe, dass viele dieser Erwartungen sich nicht erfüllten, schon gar nicht beim Thema Karabach, doch immerhin: Das "postsowjetische Dörfchen" ist nicht von der Landkarte verschwunden, darin besteht die eigentliche Sensation. Es gab nach dem ersten Karabach-Krieg in den frühen 1990ern Hoffnung auf einen Wirtschaftsaufschwung, wachsende Tourismuszahlen, kurz: einen Neuanfang, der auch den Nachbarregionen zugutekommen sollte. Vor allem der jetzige Präsident Nicol Pashinyan versuchte in diesem Sinn, zwei Jahre vor Ausbruch dieses Krieges, einen neuen Weg einzuschlagen. Nun ist das Projekt Modernisierung und Normalisierung in sich zusammengebrochen.

Warnung vor Destabilisierung

Für diese Sentimentalitäten ist aber jetzt keine Zeit: Ein humorvolles, kluges Völkchen steht einmal mehr am Rande seiner Existenz, und das nur, weil einige wenige politische Entscheidungsträger mit dem Instinkt eines Josef Stalin oder der Überheblichkeit eines Kemal Atatürk nichts Besseres zu tun haben, als ein wenig Geopolitik zu spielen. Während sich Aserbaidschan nun auf der Siegerstraße wähnt, warnt man in Jerewan vor einer langfristigen Destabilisierung der gesamten Region. Offizielle Stellen analysieren die Situation folgendermaßen: Initiative und Regie der von Aserbaidschan, der Türkei sowie Dschihadisten aus Syrien und Libyen seit 27. September gegen Bergkarabach (armenisch: Artsach) entfesselten ausgedehnten Kriegsakte gehen auf die Idee "Ein Volk, zwei Staaten" unter der Führung der Türkei zurück. Deren Präsident strebt einen Durchmarsch vom Libanon bis zum Kaspischen Meer an - eine langfristige Bedrohung für all diese Gebiete.

Recep Tayyip Erdogan kümmert sich nicht um die Intentionen seiner Nato-Verbündeten, wenn er tausende Dschihadisten und andere radikale terroristische Gruppierungen rekrutiert und als Kanonenfutter mit dem Ziel einer langfristigen weiteren Islamisierung nach Aserbaidschan einschleusen lässt. Ihm ist bewusst, dass auch die Positionen Russlands und des Iran sowie der UNO und der EU nicht außer Acht gelassen werden dürfen, und so spielt er mit dem Feuer, was eine Gefahr für die internationale Sicherheit bedeutet. Erdogan hat die Dschihadisten zu Erfüllungsgehilfen seiner Außenpolitik gemacht, und es ist offensichtlich, dass diese auch anderswo in Erscheinung treten werden, wenn sich die internationale Gemeinschaft weiterhin in Duldsamkeit übt. Waffenstillstand hin oder her - ein echtes Ende des Krieges in Bergkarabach ist noch nicht in Sicht.