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"Mutter Suu", ein Mittelfinger und der lange Weg zum Frieden

Von Georg Bauer

Gastkommentare

Die satte Mehrheit für Aung San Suu Kyi bei den jüngsten Wahlen in Myanmar war keine Überraschung. Wesentliche Elemente waren weit entfernt von Standards demokratischer Wahlen.


Vor einer Woche fanden im Schatten der US-Präsidentschaftswahlen weitere Wahlen statt, nämlich jene zur Hluttaw, dem Parlament der Union Myanmar. Seit dem um 2010 begonnenen "Demokratisierungsprozess" waren dies die erst zweiten Wahlen, die man als zumindest teilweise demokratisch bezeichnen kann. Und diese haben, wenig überraschend, Daw Aung San Suu Kyi und ihrer Nationalen Liga für Demokratie (NLD) wieder eine satte Mehrheit im Parlament gebracht.

Nur teilweise demokratisch waren die Wahlen deswegen, weil abgesehen von einem technisch relativ sauberen Ablauf am Wahltag selbst, wesentliche Elemente weit entfernt von Standards demokratischer Wahlen waren. Da wäre an erster Stelle die Tatsache zu nennen, dass weiterhin bloß 75 Prozent der Sitze in den Parlamenten überhaupt zur Wahl stehen, da die Verfassung dem Militär 25 Prozent der Sitze garantiert.

15 Prozent der Bevölkerung konnten nicht wählen

Dazu kommt der Entzug des Wahlrechts von mehr als 1,5 Millionen Stimmberechtigten im Land durch die intransparente Absage der Wahlen in Bürgerkriegsgebieten, vor allem im heftig gebeutelten Teilstaat Rakhine im Westen des Landes, aber auch in Teilen Kachins, Shans und Karens. Auffällig dabei war, dass es sich hauptsächlich um Gebiete handelte, in denen die NLD höchstwahrscheinlich keine Mehrheit bekommen hätte.

Die rund eine Million Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch waren natürlich auch nicht zur Wahl zugelassen, genauso wenig wie ihre noch im Land verbliebenen Brüder und Schwestern. Durch fehlende Infrastruktur und Information haben außerdem von den geschätzten vier Millionen Burmesen, die im Ausland - hauptsächlich Thailand - arbeiten, nur 100.000 gewählt. Kurzum: Gut 6,5 Millionen potenzielle Wähler konnten keine Stimme abgeben, bei einem Wahlvolk von rund 37 Millionen (im Land), sind das mehr als 15 Prozent. Damit hat sich der Hauptkritikpunkt der Wahlen von 2015 - mangelnde Inklusivität - sogar noch verschlimmert.

Doch auch die für demokratische Wahlen so wichtige Medienlandschaft ist alles andere als frei. Nicht nur hat sich die Lage für Journalisten unter der NLD-Regierung gar verschlechtert - man erinnere sich an das Trauerspiel um die Reutersreporter Ko Wa Lone und Ko Kyaw Soe Oo -, auch Fernsehen und Radio sind fest in der Hand der Regierung und des Militärs. Diese Medien sind vor allem auf dem Land für die Informationsgewinnung der Bevölkerung zentral; private Sender bekommen aber keine längerfristigen Lizenzen, die staatlichen Sender sind keine unabhängigen öffentlich-rechtlichen Institutionen, sondern Regierungs- und Militärpropagandasender.

Nichtsdestotrotz ist der Sieg der NLD beachtlich - entgegen einigen Vorhersagen, dass sie zwar wieder gewinnen würde, aber einige Verluste hinnehmen müsste, konnte die Partei ihre absolute Mehrheit sogar ausbauen und kommt auf fast 400 der 661 Sitze im Unionsparlament. Entgegen ihren Hoffnungen konnten Parteien, die die Anliegen der kleineren Ethnonationen des Landes vertreten, kaum Zugewinne verbuchen (60 Prozent der Bevölkerung des Landes sind Bamar, der Rest besteht aus einer Vielzahl kleinerer Ethnonationen, die hauptsächlich in den gebirgigen Grenzregionen zuhause sind).

Mehrheitswahlrecht macht es kleinen Parteien schwer

Das Ausbleiben solcher Zugewinne lag aber nicht unbedingt an der politischen Überzeugungskraft der NLD, vielmehr spielten wohl systemische Faktoren eine Rolle, allem voran das Mehrheitswahlrecht nach angloamerikanischem Muster. Dieses macht es kleinen Parteien besonders schwer, Sitze zu gewinnen. Erschwerend dazu kam die Covid-Krise, die es den neuen Parteien und ihren Kandidaten fast verunmöglichte, Bekanntheit zu erlangen. Der größte Faktor für den Erdrutschsieg der NLD dürfte aber nach wie vor sein, dass sie und Suu Kyi noch immer als das beste Gegengewicht zum Militär gesehen werden - oder, wie es ein befreundeter Aktivist ausdrückte: "NLD wählen ist immer noch der größte Mittelfinger für die Generäle."

Denn nichts vereint die Bevölkerung des Landes so wie ihr Hass aufs Militär, das das Land in jahrzehntelanger Unterdrückung und Misswirtschaft in den Ruin führte. Dass der Oberbefehlshaber just einige Tage vor der Wahl einen möglichen Putsch andeutete, motivierte die Bevölkerung wohl zusätzlich, wieder für die NLD zu stimmen - trotz Pandemie lag die Wahlbeteiligung bei mehr als 70 Prozent und damit höher als 2015. USDP, die Proxi-Partei des Militärs, kam nur noch auf schlappe 32 Sitze, nach 41 bei den Wahlen 2015 (und schreit nun, wohl nach US-Vorbild: "Wahlbetrug!"). Und schließlich zieht die Marke "Mutter Suu", wie Suu Kyi von ihren Anhängern genannt wird, auch weiterhin. Allen Unkenrufen aus dem Ausland zum Trotz bleibt sie eine quasi-Heilige im Land, vor allem unter den Bamar.

Doch auch wenn sie gestärkt aus dieser Wahl hervorgeht, ist diesmal doch einiges anders als 2015. Denn damals war ihre Wahl noch Symbol für eine Einigung der stark heterogenen Bevölkerung des Landes für eine bessere Zukunft. Die Hoffnung war auch unter den kleineren Ethnonationen groß, endlich Gehör für ihre Anliegen und Beachtung ihrer Rechte zu finden. Doch in den vergangenen fünf Jahren haben Suu Kyi und die NLD nicht bewiesen, dass sie diese Anliegen verstehen und ernst nehmen würden, im Gegenteil. So wurde etwa 2015 in Rakhine der Sieg einer ethnonationalen Partei übergangen und ein NLD-Politiker als Ministerpräsident durch den Unionspräsidenten eingesetzt - was zwar verfassungskonform, aber wenig sensibel war. Dies hat viele junge Rakhine in die Armee der Arakan Army getrieben, die im Moment die gefährlichste der mehr als 20 Rebellengruppen im Land darstellt.

Ähnliche Fehler gilt es nun zu vermeiden und die Wählerstimmen aus den ethnischen Gebieten nicht als bedingungslose Unterstützung misszuverstehen und stattdessen mit den ethnonationalen Parteien sinnvoll zusammenzuarbeiten. Macht die NLD einfach weiter wie bisher, droht das Land eine illiberale Ein-Parteien-Demokratie zu werden.

Zivilgesellschaft am Friedensprozess beteiligen

Damit hängt auch der Friedensprozess im mehr als 70 Jahre währenden Bürgerkrieg zusammen, um den es jedoch noch schlechter bestellt ist als noch vor fünf Jahren. Eine sinnvolle Beteiligung der Zivilgesellschaft daran ist dringend nötig, damit nicht nur Männer mit Waffen das Sagen haben. Denn im Grunde handelt es sich beim Friedensprozess um die Fortsetzung des nie zu Ende gebrachten Staats- und Identitätsbildungsprozesses, der in den 1930ern begann und mit dem Militärputsch 1962 sein gewaltsames, frühzeitiges Ende nahm.

Zudem muss die 75-jährige Suu Kyi dringend ihr Nachfolgeproblem lösen, ansonsten droht nach ihrer Abdankung eine Zersplitterung der NLD und des Landes. Dies bedeutet auch, eine jüngere Generation in die Partei und an Machtpositionen zu lassen - ein bisheriges Versäumnis, das viele besser gebildete, junge Burmesen neben der Machtfülle in Suu Kyis Hand stark kritisieren.

Der EU und Österreich bleibt nicht viel übrig, als weiterhin den Demokratisierungsprozess zu unterstützen, jedoch dabei die Peripherie des Landes nicht außer Acht zu lassen. Ähnlich gilt es beim Handel mit größtmöglicher Sensibilität vorzugehen - österreichische Drohnen an das Land zu verkaufen, die dann "überraschenderweise" beim Militär landen, ist dafür sicher kein Beispiel.