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Zu gleicher Zeit

Von Hellmut Butterweck

Gastkommentare

Von Wachstum, Artensterben und Bauland.


In Wien beginnt ein Mann der Wirtschaft seinen Vortrag mit der Forderung an die Politik, alles in ihrer Macht Stehende zur Förderung des dringend notwendigen Wirtschaftswachstums zu tun.

Indes entringt sich irgendwo in den Weiten der Taiga ein weiterer Kubikmeter Methan, einer unter vielen, vielen, dem Permafrost und beginnt seinen Jahre dauernden, aber unaufhaltsamen Aufstieg in höhere Luftschichten.

Ein seltener Frosch ruft im dahinschwindenden Lebensraum vergebens nach einer Fröschin.

In Wien erwähnt der Mann der Wirtschaft das Wort Wachstum ein zweites Mal.

In Niederösterreich beginnt ein Bauer mit der Arbeit, die er sich seit Wochen vornimmt. Er entfernt den Großteil des Gestrüpps am Rande des an einem seiner Äcker vorbeifließenden Baches. Dass er dabei ein Vogelnest zerstört, tut ihm leid. Dass er den Lebensraum zahlloser Organismen vernichtet, weiß er, aber er muss den neuen Traktor abzahlen und braucht dringend mehr Ertrag.

In Chicago beschimpft ein Manager am Telefon einen Wissenschafter, der in seiner unabhängigen, aber vom Konzern bezahlten Studie die Ungefährlichkeit des Schädlingsbekämpfungsmittels des Konzerns zu wenig betont.

In Österreich unterschreibt ein Bürgermeister die Umwidmung eines Ackers in Bauland und denkt vergnügt an die Renovierung seines schon etwas schäbigen Amtsgebäudes, die er im Gegenzug finanziert bekommt.

In Wien betont der Mann der Wirtschaft die Notwendigkeit eines kräftigen Wachstums zum dritten Mal.

Ein Eisbär sucht verzweifelt nach einer Eisscholle.

Über einer Schwerölanlage beginnt ein weiterer Kubikmeter Methan in Gesellschaft vieler, vieler, vieler seinen Aufstieg in die oberen Schichten der dünnen Lufthülle des Planeten.

In Wien spricht der Mann der Wirtschaft zum vierten Mal vom notwendigen Wachstum.

In Sankt Petersburg erläutert ein Oligarch dem aus Amerika angereisten CEO einer US-Reederei die Gewinnchancen, die sich ergeben werden, wenn die nordöstliche Durchfahrt eisfrei wird.

Am Südpol findet ein Amerikaner keinen Schlaf, nachdem er die Temperatur gemessen hat.

In Oberösterreich ringt ein Abt die Hände, während ihm der für den stiftseigenen Forst Zuständige über den jüngsten Borkenkäferbefall Bericht erstattet.

Irgendwo in der argentinischen Pampa schläft das letzte Exemplar einer namenlosen, von der Wissenschaft nie zur Kenntnis genommenen kleinen Käferart für immer ein.

In Tirol beginnt ein Wald zu brennen, die Freiwillige Feuerwehr rückt aus.

Der Mann der Wirtschaft erwähnt das notwendige Wachstum zum fünften Mal.

Auf einer Straße in Berlin, Wien, Köln oder Salzburg nimmt die Polizei einen Mann fest, der in Afrika seine Existenz als Bauer verloren hat.

Der Mann der Wirtschaft sagt zum sechsten Mal: Wachstum!

Der Präsident der USA schläft beim Vortrag eines Biologen ein.

Ein Abgeordneter beendet das Gespräch mit einem Umweltschützer, weil er in den Sitzungssaal muss, denkt auf dem Weg noch, man sollte was tun, und hat es nach zwei Minuten vergessen.

In Deutschland erschlägt ein Mann eine auf seiner Hand sitzende Stechmücke, ohne zu ahnen, dass es sich um die Vorhut einer nach Norden vordringenden Invasion handelt.

Ein Manager hört im Autoradio, kein Mensch kenne die Zahl der im vergangenen Jahr samt ihren Biotopen unwiderruflich ins Nirwana entschwundenen Arten, und denkt: "Ja, wenn die Zwänge nicht wären . . ."

Über dem wieder einmal extrem aufgeheizten Pazifik braut sich etwas zusammen, das etliche Menschen das Leben kosten und sich als nächstes unvergessliches Jahrhundertereignis für Wochen, wenn nicht Monate ins kollektive Gedächtnis eingraben wird.

Drei Bürgermeister unterschreiben, ohne voneinander zu wissen, die Umwidmung von Äckern in Bauland und denken freudig an die in Aussicht gestellten Gegenleistungen. Für den einen oder anderen wird auch persönlich etwas abfallen.

Zum siebenten und zum achten Mal hören die Zuhörer in Wien das Wort Wachstum.

In Brasilien schaut ein Soldat weg, weil er besser nicht hinschaut, wenn drei Schwerbewaffnete ein weiteres Stück Primärwald in Brand setzen.

Ein Eisbär gibt sich auf und stirbt.

Ein Safari-Tourist fotografiert Nashörner und fragt sich: "Ob sie wissen, dass sie aussterben?"

Der Mann der Wirtschaft sagt zum neunten Mal: Wachstum muss sein!

Ein Bagger reißt eine Wiese auf, die Eigentumswohnungen weichen muss.

Ein Immobilienmakler erläutert seinen Kindern im Zoo die wunderbare Vielfalt der Tierwelt und die Schönheit der Natur.

Eine Lehrerin erzählt den Kindern auf einer Wanderung, wie viele Schmetterlinge es gegeben hat, als sie ein Kind war.

Ein Bauer betrachtet traurig seine verdorrende Saat.

"Tut etwas!", ruft ein Klimaforscher höflich applaudierenden Politikern zu.

Irgendwo in der Taiga wartet ein Vögelchen im Nest auf den in einer Öllache ertrunkenen Partner.

Der Mann der Wirtschaft beendet seinen Vortrag, indem er es zum zehnten Mal in den Saal ruft: Wir brauchen mehr Wachstum!