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Bitte keine "soziale Distanzierung"!

Von Bernd Marin

Gastkommentare
Bernd Marin ist Direktor des Europäischen Bureau für Politikberatung und Sozialforschung (www.europeanbureau.net). Im Jänner erscheint sein neues Buch "Und nach dem Corona-Camp?" (Falter-Verlag, 150 Seiten, 9,90 Euro). CC BY 3.0/Werner Bregar

Verwenden wir lieber den Begriff der "körperlichen/ räumlichen/ physischen Distanzierung" statt des Unworts des Jahres 2020.


Solange wir keine wirksame Impfung gegen Corona haben, sind, wie bei der Spanischen Grippe 1918/19, aus infektiologischer Sicht körperliches Abstandhalten und Händewaschen der einzig nachweisbare Schutz. Und doch ist es gerade nicht soziale Distanzierung, die uns vor der Seuche schützt. Ganz im Gegenteil. Denn soziales Fasten und Darben kann Vertrauen untergraben und damit das Risiko unachtsamer Ansteckung sogar noch erhöhen; soziale Nähe dagegen kann physisches Abstandhalten und Rücksichtnahme erleichtern.

Daher hat mein Co-Autor Patrick Kenis im "Economist" vorgeschlagen, "den Begriff physische Distanzierung statt soziale Distanzierung zu verwenden." Als Soziologe ist er "verblüfft über die vielen Wege, auf denen Menschen soziale Distanz überwinden, während sie gleichzeitig physische Distanz halten müssen".

Tatsächlich ist eines der auffälligsten Merkmale bei leibhaftiger, körperlicher, räumlicher Distanzierung eine gleichzeitig erhöhte persönlichere Aufmerksamkeit, mehr Interesse, Fürsorge, Achtsamkeit, Zuvorkommen, Sanftmut, eine neue Art Höflichkeit, ja sogar Zärtlichkeit, Zuneigung und Solidarität.

Körperliche Distanzierung scheint oft durch geradezu demonstrative soziale Nähe und emotionale Kumpelhaftigkeit kompensiert, gelegentlich sogar überkompensiert zu werden. Physische Distanzierung, die durch soziale Annäherung ausgeglichen wird, kann dazu beitragen, Zusammenhalt und Moral der Gesellschaft in Zeiten der Quarantäne aufrechtzuerhalten oder gar zu stärken.

Verwenden wir daher Begriffe wie körperliche/räumliche/physische Distanzierung und nehmen wir eine gleichzeitige soziale, psychologische und manchmal sogar emotionale Annäherung zur Kenntnis. Sie gleicht die bei Vertrauten, Familienangehörigen und Verwandten, Freunden, Bekannten und Gästen häufig unangenehme physische Distanzierung und zwischenmenschliches Unbehagen aus.

Warum sprechen wir dann aber nur von Abstandsregeln statt auch von Näheregeln, wenn es um Vorgaben geht, wie wir einander nahe sein können, ohne vermeidbare Ansteckungsrisiken und sinnvolle Gesundheitsauflagen zu missachten?

Im "Habibi & Hawara" etwa, Wiens erstem Restaurant von Geflüchteten für Österreicherinnen, werden die "Corona-Spielregeln für ein sicheres Miteinander" als "orientalische Gastfreundschaft gewürzt mit Wiener Schmäh" durch Herzlichkeit statt Händedruck formuliert - und die aktuellen Corona-Testergebnisse aller 23 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Namen und Fotos auf der Website publiziert.

Das ist soziale Nähe mit Respektabstand. Mein Lehrer Leopold Rosenmayr nannte es intimité à distance. Gleichsam trauliche Verbundenheit ohne Zungenkuss. In jedem Fall ist eine soziale Distanzierung wider die Natur als gesellige Wesen. Sie bedeutet Kälte, lebensgefährdende Vereinsamung, letztlich sozialen Tod. Eine echte Fehlbezeichnung und somit das logische Unwort des Jahres 2020.