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Spaltung statt Solidarität in der Corona-Krise

Von Mateusz Morawiecki

Gastkommentare
Mateusz Morawiecki ist Ministerpräsident der Republik Polen.
© KPRM/Krystian Maj

Warum der Aufbaufonds der Europäischen Union nicht mit dem Thema Rechtsstaatlichkeit verknüpft werden darf.


Eine Krise wie die gegenwärtige passiert nur alle hundert Jahre. Erst nach und nach werden wir die Ausmaße der von der Coronavirus-Epidemie verursachten Verluste entdecken. Bereits heute sehen wir aber belastete Menschen, geschädigte Wirtschaftszweige, verzweifelte Familien, die jemanden verloren haben. Der Impfstoff ist zwar in Sicht, trotzdem wird es noch dauern, bis wir die Schwierigkeiten überwunden haben. Den entscheidenden Hoffnungsschimmer gibt es für die Europäerinnen und Europäer noch nicht. Ob sie den Glauben an die Zukunft wiedergewinnen werden, hängt von der Europäischen Union und ihrer Kraft, von solidarischen Anstrengungen und der Handlungsfähigkeit ihrer Mitgliedstaaten ab.

Die Coronavirus-Pandemie ist die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Zum ersten Mal nach 1989 haben wir als eigenständiges und vereintes Europa die Gelegenheit zu einer gemeinsamen Antwort auf die krisenhafte Herausforderung. Das ist eine große Chance. Gleichzeitig aber auch ein großes Fragezeichen: Sind wir dieser geschichtsträchtigen Probe gewachsen? In die Geschichtsbücher wird sie, davon bin ich überzeugt, als eine gewaltige europaweite Prüfung eingehen.

Zweifel an der juristischen Begründung

In dem entscheidenden Augenblick, in dem es auf die Solidarität ankommt, ist in Europa aber der Geist der Spaltung erwacht. Als sollte die enorme Anstrengung hinter dem Aufbaufonds von etwas zunichte gemacht werden, was schon immer die Schwäche unseres Kontinentes war: dem Hang zu Streitereien und der Konzentration auf das, was uns trennt, statt der Suche nach dem Verbindenden. Die Art und Weise, wie der Mechanismus der Rechtsstaatlichkeit in die Verordnung aufgenommen werden soll, weckt nicht nur ernsthafte Zweifel an der juristischen Begründung eines solchen Schrittes, sondern hebelt das Vertrauen und die Loyalität zwischen den Mitgliedstaaten und den EU-Institutionen aus. Die gegenwärtigen Schritte lassen die EU-Verträge außer Acht und erzeugen den Zustand einer großen Rechtsunsicherheit. Ist es wirklich das, was wir den Bürgerinnen und Bürgern in dieser dramatischen epidemiologischen Situation bieten wollen? Unsicherheit und politische Streitigkeiten?

Ein ernsthaftes Problem und ein Paradoxon der EU von heute besteht darin, dass sie die vielfältigen, in verschiedenen Traditionen der Mitgliedstaaten verwurzelten Rechts- und Verfassungssysteme nicht akzeptieren kann, obwohl die Wichtigkeit der Vielfalt ständig unterstrichen wird. Die Gemeinschaft besteht aus Demokratien unterschiedlicher Ausprägung, weil sich die europäischen Nationen voneinander unterscheiden. Die Fünfte Französische Republik und die Bundesrepublik Deutschland ähneln einander nicht, das ist selbstverständlich, weil die eine aus dem Willen der französischen Nation und die andere aus dem der deutschen entstanden ist. Italiener und Polen, Portugiesen und Österreicher haben das Recht, anders zu sein. Das Ziel der Europäischen Union soll in einer in Vielfalt begründeten Solidarität liegen, denn nur auf diese Weise bleibt sie kreativ und sozial. Die Vielfalt stellt ja einen europäischen Reichtum und keinen Fluch dar.

Gleichheit und Achtung der Verträge

Wir fordern Gleichheit und Achtung der Verträge. Die Europäische Union kann ihre eigenen Grundsätze weder aushebeln noch auf Wunsch einiger Mitgliedstaaten ändern. Das Gesetz zum Schutz des EU-Haushalts ist im Verhältnis zum EU-Vertrag sekundär, daher kann es die Bestimmungen des Letzteren weder ersetzen noch modifizieren. Der Mechanismus der Rechtsstaatlichkeit bedeutet einen Versuch, den EU-Vertrag, konkret den Artikel 7, zu umgehen. Es muss klar gesagt werden: Das ist ein Mechanismus, der zur Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien durch die Mitgliedstaaten konzipiert wurde und der aber selbst das EU-Recht umgeht, also die Rechtsstaatlichkeit bedroht.

Immer wieder kommt es in der EU zu Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten, doch stehen uns Instrumente zur Verfügung, die bis jetzt stets eine Einigung bewirkt haben. Ich hoffe, dass wir fähig sind, eine Lösung zu finden, die den Buchstaben und den Geist der EU-Verträge achtet. Vielleicht handelt es sich aber um ein Spiel, das von einigen Akteuren gespielt wird, damit der Europäische Aufbaufonds nicht aktiviert wird, weil sie zwar die größten Nutznießer des gemeinsamen Binnenmarktes sind, aber keine Lust haben, in die gemeinsame Kasse einzuzahlen? Wir haben heute alle ein Ziel, und dieses Ziel - der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas - muss unser Wegweiser sein.

Macht und Entscheidungsgewalt für Organe ohne demokratische Legitimation

So wie er zurzeit konzipiert ist, eröffnet der Mechanismus der Rechtsstaatlichkeit Tür und Tor für gefährliche Interpretationen. Viel Macht und Entscheidungsgewalt wird damit an Organe ohne demokratische Legitimation oder zumindest mit einer im Vergleich mit den Nationalparlamenten defizitären demokratischen Grundlage abgeben. Dies stellt eine große Gefahr für jeden Mitgliedstaat und für die Zukunft der ganzen EU dar. Wer sich dagegen immun wähnt, ist sich der Ausmaße der dadurch entstehenden Beliebigkeit wohl kaum bewusst.

Unschwer kann man sich nämlich vorstellen, dass einer politischen Kraft in der EU die eine oder die andere von einem Mitgliedstaat in Angriff genommene politische oder wirtschaftliche Reform missfallen kann. Es würde ausreichen, sie vor den Medien und im Europäischen Parlament als Verletzung der Rechtsstaatlichkeit zu bezeichnen, um den betreffenden Mitgliedstaat mit einem Wegfall von Mitteln aus den EU-Fonds zu bedrohen. Wollen wir das wirklich? Wollen wir derart arbiträr entscheiden? Die aus einer solchen Herangehensweise resultierenden zentrifugalen Kräfte wecken?

Eine solche Lösung ermöglicht es im großen Maße, Druck auf die Innenpolitik der Mitgliedstaaten auszuüben. Ich betone: auf die Innenpolitik. Dieser arbiträre, politisch motivierte Mechanismus richtet sich heute gegen Polen - wer garantiert uns jedoch, dass er sich morgen nicht gegen einen anderen Staat richten wird, wenn dieser nicht bereit ist, sich dem Willen Brüssels zu beugen? Die Verträge achten und beschützen die Souveränität der Mitgliedstaaten, während der neue Mechanismus sie verletzt und bedeutend beschränkt.

Wer damit nicht einverstanden ist und sein Veto einlegt, schwächt nicht die EU. Das ist ein in der Realität europäischer Strukturen verankertes Vorgehen, im Einklang mit dem Geist der EU und ihrer demokratischen Natur. Ein Sicherheitsventil, ohne das die EU gar nicht existieren kann. Ein Instrument, welches dem Kompromiss dient und die Schwächeren vor der Bevormundung durch die aktuell Stärkeren schützt. Es bekräftigt die Gleichwertigkeit der Stimme eines jeden Mitgliedstaates.

Charles de Gaulle sagte einmal, dass man die Zukunft der Gegenwart nur deshalb opfere, weil man nicht nein sagen könne. Polen fühlt sich mitverantwortlich für die Zukunft Europas. Deshalb bedeutet unser Nein zu dem jetzt vorgeschlagenen Mechanismus ein Ja zu einem wahrhaftig vereinigten Europa der Vielfalt, Freiheit, Gleichheit und Solidarität.