Zum Hauptinhalt springen

Sarajevos Einzigartigkeit und Europas Schwäche

Von Philipp Jauernik

Gastkommentare

Vor 25 Jahren beendete das Abkommen von Dayton den Bosnien-Krieg offiziell - was wir aus Fehlern lernen müssen und wofür es eine stärkere, gemeinsame EU-Außenpolitik braucht.


"Ich habe Sarajevos Einzigartigkeit erst verstanden, als ich weg war. Vor dem Krieg war es praktisch die einzige Stadt mit multikulturellem Leben. Zwei Glocken klingen besser als eine. Alle drei zusammen sind wie ein Orchester. Das ist es, was ich hören will." Diese Worte sprach niemand Geringerer als der bosnische Jahrhundertfußballer und -trainer Ivica Osim. Er spielte auf die multikulturelle und multiethnische Tradition seiner Heimatstadt an, in der ein gewisses Miteinander der Religionen selbstverständlich war, wo man bis heute Moscheen, Kirchen und Synagogen nicht weit voneinander entfernt findet.

Osim war bis 1992 Teamchef der jugoslawischen Nationalmannschaft. Seine Mannschaft hatte zuvor die Qualifikation zur Europameisterschaft 1992 dominiert und galt als einer der Titelfavoriten. Aufgrund des Krieges wurde Jugoslawien aber vom Turnier ausgeschlossen (der Ersatzkandidat Dänemark gewann letztlich). Nachdem am 5. April 1992 die Armee der Republika Srpska und Einheiten der jugoslawischen Bundesarmee begonnen hatten, Sarajevo zu belagern und zu beschießen, trat Osim zurück. In der damaligen Pressekonferenz sagte er: "Mein Rücktritt ist das Einzige, das ich für meine Stadt tun kann. Sie sollen sich erinnern, dass ich aus Sarajevo komme. Sie wissen, was dort passiert."

Ja, das wusste man. Die Belagerung dauerte 1.425 Tage, länger als jede andere Belagerung des 20. Jahrhunderts. Sie forderte etwa 11.000 Tote, darunter 1.600 Kinder. Mehr als 50.000 Menschen wurden (teilweise schwer) verletzt. Die Luftbrücke zur Versorgung der Stadt dauerte länger als die Berliner Luftbrücke nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis heute sind in der Stadt die Spuren des Krieges zu sehen.

Eine schmerzhafte Wundeim humanitären Gewissen

Als die Belagerung von Sarajevo begann, tobte der Krieg in Kroatien bereits mehr als ein Jahr. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich laut dem Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen 1,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Brutalität des Bosnien-Krieges war ein besonderer Schock für Westeuropa. In Österreich entstand "Nachbar in Not", das bis 1997 für die Opfer der Jugoslawien-Kriege mehr als eine Milliarde Schilling sammelte. Dennoch: Dass in den 1990er Jahren, bedingt durch die vielen Flüchtlinge aus Südosteuropa, von einzelnen politischen Kräften die Ausländerfeindlichkeit bewusst verstärkt und dann zum Wahlkampfthema gemacht werden konnte, ist bis heute eine schmerzhafte Wunde im humanitären Gewissen unseres Landes.

Ebenso schmerzt die Tatsache, dass es uns Europäern abseits großzügiger Hilfen und der Aufnahme von Flüchtlingen kaum möglich schien, die blutigen Aggressionen (einschließlich Massaker wie jenes in Srebrenica) selbst zu beenden. Es bedurfte der Aktivität der USA, wieder einmal. Bereits 1992 forderte der damalige Senator Joe Biden militärische Unterstützung für Bosnien gegen die Aggression aus Belgrad, 1994 besuchte er das belagerte Sarajevo. Besonders auf seinen Druck hin drang der damalige US-Präsident Bill Clinton aktiv auf Verhandlungen.

Diese Verhandlungen wurden im November 1995 in Dayton (Ohio) zu einem erfolgreichen Ende gebracht. Und vor 25 Jahren, am 14. Dezember 1995, unterzeichneten der serbische Präsident Slobodan Milosevic, der kroatische Präsident Franjo Tudjman und der Vorsitzende des bosnisch-herzegowinischen Präsidiums, Alija Izetbegovic, in Paris das Abkommen von Dayton, das den Bosnien-Krieg endlich formal beendete.

Er hatte fast 110.000 Menschenleben gekostet. Das ist jedoch nur die Mindestannahme - Schätzungen gehen teils wesentlich höher. Rund 40 Prozent der Toten waren Zivilopfer, vier Fünftel davon Bosniaken. 2,2 Millionen Menschen waren vertrieben worden oder geflohen. Wer weiß, welche Grausamkeiten bei einem beherzteren, früheren Eingreifen der internationalen Gemeinschaft hätten verhindert werden können.

Bosnische Politiker treten für eine Revision von Dayton ein

Das Abkommen von Dayton beendete die unmittelbare militärische Bedrohung für Bosnien und Herzegowina und stellte eine Nachkriegsordnung her, die aber speziell mit der Entität Republika Srpska gewisse gesetzte Realitäten anerkennen musste und sich bemühte, einen Ausgleich zwischen den Volksgruppen zu schaffen. Entsprechend komplex und unübersichtlich ist Bosnien und Herzegowina heute organisiert. Für die Aufrechterhaltung der Ordnung ist eine internationale Truppe zuständig, die seit 2004 Eufor heißt und unter EU-Kommando steht.

Heute wird von bosnischen Politikern teils offen ausgesprochen, dass es eine Revision von Dayton braucht, um das Land selbständiger, handlungsfähiger und vor allem reformfähiger zu machen. Die Wahl des schon vor fast 30 Jahren für die Region aufmerksamen Joe Biden zum US-Präsidenten wird dementsprechend von vielen in Bosnien und Herzegowina mit einer gewissen Hoffnung gesehen. Ob er sie erfüllen wird und will, ist derzeit unklar. Tragisch genug aus europäischer Sicht ist allerdings, dass es auch 25 Jahre nach dem Dayton-Abkommen primär der (künftige) US-Präsident ist, auf dem die Hoffnungen der Südosteuropäer ruhen - und nicht die Handlungsfähigkeit Europas. Dass die 27 EU-Mitgliedstaaten immer noch nicht mit einer geeinten, starken Stimme sprechen, rächt sich erneut.