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Durch Corona zu sinnvoller Gemeinwohl-Ökonomie

Von Christian Felber

Gastkommentare
Christian Felber ist Affiliate Scholar am IASS in Potsdam, Gründungsmitglied von Attac Österreich sowie Initiator des Projekts Bank für Gemeinwohl und der Gemeinwohl-Ökonomie. Aktuelle Bücher: "This is not economy. Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft" sowie "Ethischer Welthandel. Alternativen zu TTIP, WTO & Co" (beide Deuticke).
© Bernd Hofmeister

Die Krise bietet die Chance, grundlegend über die menschliche Wirtschaftsweise nachzudenken nachhaltigere und sinnvollere Modelle zu entwickeln.


In einem Jahresschluss-Tusch warnte der frühere Chefökonom der Industriellenvereinigung, Erhard Fürst, eindringlich vor neuen Entwicklungen wie der Gemeinwohl-Ökonomie, der Berücksichtigung sozialer, ökologischer und Governance-Themen sowie "Purpose-Diskussionen über den Unternehmenszweck". So gut die neuen "Vorsätze" und Modelle klingen mögen, Fürst, der jahrelang das Wachstumsexperiment als leitender Ökonom begleitete, will nötige Innovationen und Reformen am Status quo nicht einmal andenken: Die neuen Modelle würden "an der Realität zerschellen", prognostiziert - oder hofft - er.

Zunächst: Dass die alten Modelle keines der drängenden Gegenwartsprobleme zu lösen vermochten, wird immer offensichtlicher: Klimawandel, Verlust von Artenvielfalt, Nitrifizierung, Erosion des sozialen Zusammenhalts, zunehmende Ungleichheit und Machtkonzentration sowie allgemeiner Sinnverlust in der Wirtschaft. Schon vor der Corona-Krise nahm die Lebenszufriedenheit in vielen Industrieländern ab, trotz gestiegenem Pro-Kopf-Einkommen und historischem Rekord-BIP. Diese makroökonomischen (Erfolgs-)Kennzahlen sind aber offenbar nicht mehr aussagekräftig über das Wohlbefinden und "echten Wohlstand". Dennoch ist Fürst überrascht, dass "selbst" Finanzmarktakteure plötzlich über Sinn und Zweck des Wirtschaftens nachdenken.

Tatsächlich ist das der Kern. Mit dem Siegeszug der Neoklassik ist der Wirtschaftswissenschaft wie der Realwirtschaft das Ziel abhanden gekommen. Lionel Robbins behauptete 1935 als Erster: "Die Ökonomik ist vollkommen neutral in Bezug auf Ziele." In heutigen Lehrbüchern handelt die Wirtschaftswissenschaft vom "effizienten Management knapper Ressourcen". Ein Ziel sucht man vergeblich. Die Gemeinwohl-Ökonomie greift den abgerissenen Sinn-Faden wieder auf: Wirtschaftliche Tätigkeiten haben prinzipiell dem Wohl aller zu dienen, darin waren sich Aristoteles, Adam Smith und Ludwig Erhard einig. Ein - demokratisch definiertes - Gemeinwohl-Produkt könnte das monetäre BIP ersetzen; und eine Gemeinwohl-Bilanz für Organisationen ihren - positiven wie negativen - Beitrag zur Zielerreichung messen. Diese Innovation hat sich bereits in der Realität bewährt: Bald 1.000 Unternehmen, aber auch immer mehr Schulen, Hochschulen, Gemeinden und neuerdings die ersten Städte erstellen eine Gemeinwohl-Bilanz. Sie messen damit all das, was mit Finanzbilanz, Finanzrendite und BIP nicht zu messen ist: das eigentliche Ziel des Wirtschaftens.

Unternehmen und Investitionen, die mehr zu Klimaschutz, sozialem Zusammenhalt und Verteilungsgerechtigkeit beitragen, sollen über Anreize - vom öffentlichen Einkauf bis zum Weltmarktzugang - bessergestellt werden und umgekehrt, bis die Preise nachhaltiger und ethisch verantwortlicher Produkte für die Endverbraucher niedriger sind als die Preise der Dumpingprodukte. So kehren Sinn und Zweck in das Wirtschaftsgeschehen zurück.