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Lob und Tadel der offenen Gesellschaft

Von Zoltan Peter

Gastkommentare
Zoltan Peter ist Soziologe, derzeit leitet er die Drittmittelprojekte "Toleranzkompass Jugendliche" sowie "Integrationsthema Toleranz", das nun auch als Buch im Springer Verlag erscheint.
© privat

Wir brauchen kulturelle Vielfalt. Es ist aber zu befürchten, dass die Toleranz dabei allzu oft mit zweierlei Maß misst.


In den medialen Debatten kursieren seit einigen Jahren verschiedene Thesen zum Thema Migration. Es gibt darunter sehr restriktive Ansichten, und es gibt solche, die sich durch eine besondere Aufgeschlossenheit gegenüber Einwanderern beziehungsweise fremden Kulturen, Ethnien und Religionen auszeichnen. Letztere (meistens handelt es sich um Meinungen von Autoren mit österreichischem Background) gehen selbst mit dem, wovon sie offenkundig nicht begeistert sind (etwa mit der Missachtung der Frauenrechte oder religiösem Fanatismus), besonders behutsam um. Zu den Themenbereichen Sprache, ethnische (Kultur-)Vereine und Integration seien drei Denkanstöße gegeben:

Muttersprache und Landessprache

Erstens: Viele Kinder und Jugendliche beherrschen die deutsche Sprache aus schulischer Sicht ungenügend. Seit vielen Jahren zieht man dazu die These heran, eine Fremdsprache sei nur dann einwandfrei zu erlernen, wenn davor die Muttersprache ausreichend verankert worden sei. Daher sei es notwendig, Kindern (auch in Kindergarten und Schule) entsprechende Möglichkeiten zu bieten. Diese These ist nicht unumstritten, lässt sie doch außer Acht, dass es sich mit dem Erlernen einer Fremdsprache in etwa so verhält wie mit einem Musikinstrument: Je früher man damit beginnt und je mehr man übt, umso besser und schöner klingt es. Für das Gehirn zählt vor allem die Routine.

Abgrenzung von Volksgruppen

Zweitens: In einem Zeitungsartikel ("Austrotürken als Volksgruppe? Wieso nicht", im "Standard" vom 25. August 2020) plädierte der Autor für die offizielle Anerkennung von Zuwanderern türkischer Herkunft als Volksgruppe. Eine solche Anerkennung würde, so die These, die Integrationsbereitschaft eben jener Volksgruppe steigern. Wiederum besteht Diskussionsbedarf: Es liegt nämlich in der Logik der Sache, dass das Zentralinteresse ethnischer/religiöser Vereine und Volksgruppen, die hierzulande offiziell anerkannt sind beziehungsweise eine Anerkennung erlangen möchten, im Aufrechterhalten und in der Pflege der eigenen Tradition, Kultur und Religion liegt.

Der Job dieser Vereine und Organisationen ist es also, die jeweilige Kultur oder Religion als lebensnotwendigen Wert zu behaupten, dafür gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen und möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Wobei angemerkt werden muss, dass die dabei behauptete Homogenität der Volksgruppe und deren vermeintliche kollektive Identität (die in der Praxis so nicht existiert) auch von äußeren Kräften gelenkt werden. Denn wenn ethnische Minderheiten nationale oder internationale politische Anerkennung als Volksgruppe erreichen wollen, müssen sie sich von anderen Ethnien kulturell radikal abgrenzen. Sie müssen sich unverwechselbar, ja geradezu "identitär" darstellen (mehr dazu etwa bei Reetta Toivanen: "Das Paradox der Minderheitenrechte", 2005).

Dieser "Markt" der ethnischen Vereine lässt sich mit der Idee der multikulturalistischen Gesellschaft gut vereinbaren: mit einer Gesellschaft, die wie ein Mosaik aus farbigen Glassteinen dargestellt werden könnte - einer davon größer, die anderen kleiner. Wobei das größere Stück die Mehrheitsgesellschaft und die kleinen bunten Glassteine die bestehenden ethnischen Gruppen darstellen würden. Damit hat man ein vielfarbiges und zerbrechliches Glaskonstrukt - und in der Realität eine vielfältige Gesellschaft, in der die ethnischen Gruppen (die kleinen Steine) kaum etwas miteinander zu tun haben, voneinander wenig bis nichts wissen. Sie pflegen kaum Austausch untereinander; ihre Verbindungen zur Mehrheitsgesellschaft sind unterschiedlich: Es gibt darunter persönliche Kontakte oder solche, die rein ökonomischer, sportlicher, schulischer oder kultureller Natur sind.

Es gibt also gewisse emotionale und gewisse kognitive Kontakte - oder gar keine. Für Stillstand oder Bewegung ist die jeweilige Kulturauffassung maßgebend: Vertreten Volksgruppen eine essentialistische Kultur - eine, die sich fremden Einflüssen gegenüber prinzipiell verschlossen, reserviert oder gar ablehnend verhält -, so können keine emotionalen Kontakte entstehen. Es gibt keinen Resonanzraum. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn eine ethnische Organisation oder ein Kulturverein nie eine multikulturelle Veranstaltung anbietet, sondern ausnahmslos unter sich bleibt. Wenn sie sozusagen nur für sich selbst musiziert und tanzt.

Ein problematisches Schema für gelungene Integration

Zu guter Letzt sei ein Blogartikel ("Integration von Migrantinnen und Migranten: Möglichkeit Schule" auf www.derStandard.at vom 24. November 2020) erwähnt: Darin wurde eine psychologische Studie zum Thema Integration vorgestellt. Die Autorin des Artikels und der Studie verwendet für die Erschließung der Integrationschancen ein einfaches Schema, für das zwei Fragen gestellt werden: "Wird es als wertvoll erachtet, Beziehungen zu Menschen anderer kultureller Gruppen einzugehen?" Und: "Wird es als wertvoll erachtet, die eigene kulturelle Identität und ihre Merkmale beizubehalten?" Wenn beide Aussagen von Einwanderern mit "Ja" (und nicht mit "Nein") beantwortet werden, dann haben wir es dem Schema nach mit einer gelungenen Integration zu tun.

Die Autorin kommt dadurch zu folgendem Schluss: "Zur Förderung und Unterstützung einer erfolgreichen Integration von Migrantinnen und Migranten empfehlen wir, in der schulischen Praxis Maßnahmen zu setzen, die es Immigrantenkindern ermöglichen, ihre eigene Kultur wertzuschätzen und nicht aufzugeben; Bedingungen schaffen, damit Freundschaften zwischen Kindern und Jugendlichen verschiedener kultureller Gruppen entstehen; das Eskalieren ethnischer Konflikte vermeiden."

Auch darüber ließe sich kritisch diskutieren, denn es wird eines übersehen: In einer offenen Gesellschaft sollte es nicht darauf ankommen, ob die behauptete ethnische Identität für die Gruppe selbst lebenswichtig erscheint oder nicht, sondern vielmehr darauf, ob die zu bewahrende und für schützenswert gehaltene Identität hinreichend demokratisch, kulturoffen und tolerant ist.

30 Prozent sehen Migration als Bereicherung an

Alle drei zitierten Ansätze plädieren - streckenweise pauschalierend - für die Beibehaltung und Pflege der exilierten Kultur, der jeweiligen Sprache und somit von Gewohnheiten. Dabei wäre es doch geradezu absurd, eine Kultur zu fördern, in der es beispielsweise ganz normal ist, Kindern und Frauen jegliche Freiheit abzusprechen, oder eine solche, die anderen Ethnien nicht einmal ein Minimum an Respekt einräumt und bei Kritik sogar in eine Opferrolle fällt. In allen drei Ansätzen haben wir es offensichtlich mit einer multikulturalistischen Haltung zu tun, der gemäß eine Aussage wie etwa jene, dass "Einwanderer die Landesprache eines Aufnahmelandes lernen und sich die dortige Kultur und Tradition aneignen sollten", auf geringe Zustimmung stieße. Vielmehr ist einer solchen Einstellung inhärent, dass alle Kulturen gleichwertig sind und man keine Kultur über die andere stellen darf.

Wir haben 700 Schülerinnen und Schüler diverserer Herkunft unter anderem daraufhin untersucht, ob und inwiefern sie "die Vielfalt von Lebensstilen, Kulturen und Religionen in Österreich" wertschätzen. 30 Prozent der bisher von uns untersuchten Jugendlichen stimmten diesem Item gänzlich zu (Zoltan Peter / Ina Wilczewska: "Weltbeziehungen von Jugendlichen"). In einer anderen aktuellen Studie (Wolfgang Aschauer: "Zur Analyse und Erklärung antimuslimischer Ressentiments in Österreich") ist für 30 Prozent von 1.200 befragten Österreicherinnen und Österreichern die Aussage, Muslime stellten "keine kulturelle Bereicherung dar", nicht stimmig. Daraus lässt sich ableiten: 30 Prozent der Befragten (vielleicht etwas mehr) sehen in der Migration eine klare Bereicherung für das Land.

Das ist ein prinzipiell positiv zu interpretierendes Ergebnis. Einige Tücken hat es dennoch. Denn natürlich lehnt die genannte multikulturalistisch eingestellte Gruppe Terrorismus ab und auch jene Personen, die von der Polizei als "Gefährder" eingestuft werden. Aber wie geht dieser Toleranztypus mit jenen 5 bis 6 Prozent der Einwanderer um, die die Grundrechte komplett ablehnen und zugleich religiös sehr intolerant sind, beziehungsweise mit jenen 20 bis 25 Prozent, die starke antisemitische und homophobe Einstellungen haben (siehe dazu unsere Studie)? Wie reagiert dieser Typus auf jene Burschen, die in manchen Schulen muslimische Mädchen, die kein Kopftuch tragen, Tag für Tag terrorisieren?

Das zu beantworten, ist ohne entsprechende Daten natürlich nicht möglich. Es könnte allerdings sein, dass jener Typus gegenüber einer politisch rechts angesiedelten Gruppe von Menschen, die lauthals "Das ist mein Land, verschwinde!" rufen, viel kritischer eingestellt wäre als gegenüber jenen, die täglich "Haram!" schreien. Es ist zu befürchten, dass der wertschätzende Toleranztypus mit zweierlei Maß misst.

Aufgeschlossenheit versus Sachlichkeit

In Westeuropa insgesamt und vorwiegend in Deutschland sowie Österreich hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg bei geschätzt 30 Prozent der Bevölkerung eine Toleranzpraxis durchgesetzt, die wir wertschätzende, multikulturalistische oder postmoderne Toleranz nennen. Ihr ist es eigen, alle Kulturen und Religionen, denen sie begegnet, beispielhaft wertzuschätzen. Die Grenzen dieser Toleranz werden bei Gewalttaten und Terrorismus gezogen.

Diese wertschätzende Aufgeschlossenheit ist durchaus zu bewundern: Sie ist demokratisch, besonders human und großzügig - und zugleich utopisch. Manchmal wird ihr gar eine gewisse Blauäugigkeit attestiert. Diese Toleranz (die übrigens nicht nur auf dem Papier existiert, sondern in zahlreichen sozialen und politischen Handlungen leicht nachzuweisen wäre) ist alles andere als unproblematisch. Es könnte ihr nämlich die gesellschaftlich notwendige Sachlichkeit verloren gehen - und auch der Weitblick in Migrationsfragen. Oder sind sie bereits verloren?

An den bisherigen Daten lässt sich jedenfalls gut erkennen, dass zwischen den beiden Extremen - unbegrenzt alles und praktisch nichts erlauben (auch letztere Position findet man bei 30 Prozent der österreichischen Bevölkerung) - rund 40 Prozent der Bevölkerung in punkto Toleranz eine besonders sachliche und vernunftorientierte Haltung einnehmen. Das ist erfreulich. Nur, was ist sachlich, vernunftorientiert und weitblickend: der Standpunkt des Verfassungsgerichtshofs, der das Kopftuchverbot in den Volksschulen als rechtswidrig ansieht, oder jener des Islamwissenschafters Mouhanad Khorchide, wonach im Islam das Kopftuchtragen bei Kindern unter 14 Jahren verboten ist? Das Wohl der Kinder sollte entscheidend sein.

Die Studie ist online abrufbar: https://www.bmeia.gv.at/integration/download/publikationen/