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Lernen wir das Zusammendenken, bevor es zu spät ist

Von Ernst Smole

Gastkommentare
Ernst Smole war Berater der Bildungsminister Fred Sinowatz, Herbert Moritz und Helmut Zilk. Er koordiniert den "Unterrichts:Sozial:Arbeits- und Strukturplan für Österreich 2015 - 2030" (www.ifkbw-nhf.at).
© privat

Klimawandel und Corona-Pandemie darf man nicht isoliert betrachten.


Der Philosoph Peter Sloterdijk sieht die Überblickskompetenz, den Mut zum Zusammendenken, als wichtigste Voraussetzung für Zukunftsfähigkeit. Karl Popper meinte, den Begriff "Wissenschaft" sollte es ausschließlich in der Pluralform geben.

Am 19. August 2016 schrieb die "Wiener Zeitung" Geschichte: Konstanze Walther berichtete über die "Wasserflüsterin" Rita Colwell, die beim Forum Alpbach ihre Forschungsarbeit vorstellte. Seit 50 Jahren untersucht sie die Wassertemperatur und Mikroorganismen im Golf von Bengalen: Das Wasser hat sich dort seit den 1960ern um 1,5 Grad Celsius erwärmt, die Mikroben - auch krankheitserregende - haben sich versechsfacht! Eine Folge: zweimal jährlich Cholera-Epidemien in den Küstenregionen des Golfs von Bengalen - Epidemien, von denen wir in Europa keine Kenntnis erhalten, geht es dort ja "nur" um Dritte-Welt-Länder.

Dass die Erderwärmung das Wachstum von Organismen fördert, ist aus der Erdgeschichte bekannt. Die größten Landwirbeltiere, mehr als 40 Meter lange Riesensaurier, lebten in Zeiten hoher Luft- und Wassertemperaturen, wie auch jene unfassbar üppige Vegetation mit riesenwüchsigen Bäumen, die heute unsere Kohlelagerstätten bilden.

Die Leserreaktion auf die sensationelle Reportage über Colwells Arbeit: ein einziger Eintrag auf der Website. Warum? War es die überfordernde Disziplinenvielfalt aus Hydrologie, Biologie, Virologie und Klimatologie?

In einem Radiointerview mit einem Glaziologen, der sich mit dem Rückzug der Gletscher in den Alpen befasst, lautete dessen verblüffende Antwort auf die Frage nach möglichen geologischen und tektonischen Folgen: "Ihre Frage zielt in Richtung Geologie und Geodynamik. Da kann ich nichts dazu sagen, das ist nicht meine Disziplin!"

Szenenwechsel: Im Dirigierunterricht an einer Musikuniversität stellt ein Student eine Frage, die sich auf einen wichtigen strukturellen Aspekt der einzustudierenden Komposition bezieht. Der renommierte Professor antwortet: "Gehen Sie nach nebenan, zu den blutleeren Musiktheoretikern - hier lernen wir das Staberlschwingen!"

Und die interdisziplinäre Überblicksfähigkeit heute? Klimawandel/Erderwärmung einerseits und Corona andererseits werden auf der politischen wie auf jener Ebene, deren gesellschaftliche Aufgabe es wäre, "zusammenhängendes und damit werthaltiges Wissen zu schaffen", völlig getrennt abgehandelt, obwohl Epi- und Pandemien eine ihrer Hauptursachen in der erderwärmungsbedingten Vermehrung von Organismen haben - siehe Colwells Forschungsergebnisse.

Das macht Angst: Der Indische Ozean hat sich in einem halben Jahrhundert um 1,5 Grad erwärmt, die Zahl der Mikroben hat sich dort versechsfacht - und in meiner südsteirischen Heimat sind die durchschnittlichen Sommertemperaturen in nur 20 Jahren um nicht weniger als 2,8 Grad gestiegen. Was kommt da auf uns zu?

Bei keinem der großen heutigen Probleme kann eine einzelne Disziplin zukunftsfähige, weil werthaltige Antworten geben. Diese entstehen aus dem Zusammendenken unterschiedlichster Disziplinen. Lernen wir das Zusammendenken, bevor es endgültig zu spät ist.