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Das Kapitol schlagen, den Kongress meinen

Von Tim Neu

Gastkommentare
<span lang="DE" style="font-size:11.0pt;font-family: "Calibri",sans-serif;mso-fareast-font-family:Calibri;mso-fareast-theme-font: minor-latin;color:#1F497D;mso-ansi-language:DE;mso-fareast-language:EN-US; mso-bidi-language:AR-SA">Tim Neu ist Assistenzprofessor für Geschichte derDemokratie und der Menschenrechte an der Universität Wien.</span>
© Daniel Sadrowski

Warum Parlamentserstürmungen schockieren und was aus der Verletzlichkeit politischer Körper gelernt werden kann.


Wer am 6. Jänner die Berichterstattung aus Washington verfolgte, konnte zweierlei beobachten: physische Gewalt und die Unterbrechung des Kongresses. So unentschuldbar vor allem die Todesfälle sind, so konstituiert das Geschehen doch keinen Ausnahmezustand, denn Gewalttätern kann man den Prozess machen, und parlamentarische Verfahren kann man wieder aufnehmen. Letzteres geschah noch am selben Tag und endete mit der Zertifizierung des Wahlsiegs von Joe Biden; auch die Inhaftierung der Gewalttäter ist inzwischen ins Rollen gekommen.

Woher aber rührt dann das medial allgegenwärtige Schockempfinden? Sprachliche Spuren geben erste Hinweise: Formulierungen wie "Sturm aufs Kapitol" und "Belagerung des Kongresses" bezeugen, dass die Gewalt als eine doppelte erfahren wurde - als physische gegen das Kapitol als Gebäude und die dort befindlichen Menschen sowie gleichzeitig auch als genuin politische gegen den Kongress als Institution.

Wie aber sollte "der Kongress" verletzt werden können? Ist es nicht eigentlich völlig egal, ob ein kostümierter Eindringling im Sessel des Senatspräsidenten für Erinnerungsbilder posiert oder ein anderer im Büro von Nancy Pelosi, der Sprecherin des Repräsentantenhauses, mit dem Fuß auf dem Tisch herumlümmelt, solange beide Kammern nach dem Ende der Erstürmung wieder regelgerecht funktionieren? Nein, es ist nicht egal, so lautet einhellig die öffentliche Meinung.

Es ist nun kein Zufall, dass diese Schockempfindung stets mit militärischen Gewaltmetaphern artikuliert wird, sondern vielmehr Ausdruck der Tatsache, dass Parlamente eben mehr sind als nur Verfahren der Entscheidungsfindung - nämlich politische Körper. Denn Gewalt setzt doch gerade an der Verletzlichkeit von Körpern an. In Demokratien entscheiden Parlamente eben nicht nur, sondern sie verkörpern auch den eigentlichen Entscheidungsträger, sie machen das souveräne, aber in seiner Gesamtheit notwendigerweise abwesende Volk anschaulich erfahrbar und damit anwesend. Und eben dieser Körper wird verletzt, wenn sich Eindringlinge ganz wörtlich an die Stelle der gewählten Repräsentanten setzen, unterbrechen sie doch damit die symbolische Verkörperungsleistung des Parlaments.

Doppelcharakters der ausgeübten Gewalt

Schockierend sind Parlamentserstürmungen wie die vom 6. Jänner also vor allem wegen des Doppelcharakters der ausgeübten Gewalt, die eben nicht nur das Kapitol und seine Menschen trifft, sondern vor allem den politischen Körper des Kongresses verletzt - und damit in der Tat als mittelbarer Angriff auf den Souverän verstanden werden kann. Historisch gesehen handelt es sich nun allerdings nicht um eine Ausnahmeerscheinung, allein in den vergangenen fünf Jahren wurden mindestens drei weitere Parlamente gestürmt (Mazedonien 2017, Venezuela 2017, Irak 2016), und 2020 sah es kurzzeitig so aus, als würde dieses Schicksal auch den Bundestag ereilen.

Was ist also zu tun? Die Mehrheit der Demokratietheoretiker würde wohl die Position vertreten, die Körpermetapher als Teil des Problems anzusehen, da für die Demokratie eine "Entkörperung der Macht" (Zitat Claude Lefort) zentral sei. Das hieße aber wohl, den oben skizzierten Weg zu empfehlen, den aus der Verletzungsempfindung resultierenden Schock zu ignorieren und das Parlamentsverfahren einfach nüchtern fortzusetzen. Nun spricht aber die Dauerhaftigkeit der Rede von Angriff, Sturm und Belagerung vielmehr dafür, dass Parlamente in der politischen Praxis faktisch sehr wohl als politische Körper - alle angehend und gleichzeitig verletzlich - empfunden und behandelt werden. Daher sollte es auch darum gehen, mit den Möglichkeiten der Körpermetapher zu arbeiten.

Artverwandtschaft von Monarchie und Demokratie

Der Politikwissenschafter Philip Manow hat dabei zu Recht auf die diesbezügliche Artverwandtschaft von Monarchie und Demokratie hingewiesen: Beide gründen sich auf eine Instanz, in der physische und politische Körperlichkeit symbiotisch verbunden sind, wobei letztlich nur die Zahl der physischen Körper variiert - einer im Falle des Königs, viele im Falle des Parlaments. Nimmt man das ernst, und bedenkt gleichzeitig das Desinteresse der Demokratietheorie an der politischen Verkörperung, dann erscheint es sinnvoll, sich jenen vormodernen Denkern zuzuwenden, die sich über Jahrhunderte mit den Problemen des königlichen Doppelkörpers befasst haben. Diese diagnostizierten ein fundamentales Wahrnehmungsproblem: Der spanischen Spätscholastiker Juan de Mariana (1536 bis 1624) etwa beklagte die "Blindheit" des Monarchen, "der eingesperrt in seinem Palast wie in einer Höhle, die Einzelheiten nicht mit eigenen Augen betrachten kann". Hier sollte ein Parlament nun eigentlich im Vorteil sein, insofern es doch potenziell über die Augen aller Abgeordneten verfügen kann. "Wer sollte", so gibt de Mariana jedoch weiter zu bedenken, "unter dem ständigen Applaus der Höflinge die Wahrheit erkennen, unter den Lügen und Betrügereien der Diener, die alles ihren persönlichen Interessen anpassen?" Im Anschluss daran wäre dann doch kritisch zu fragen, ob die Parlamente der Gegenwart oftmals überhaupt noch mehr hören als die Einflüsterungen der Lobbyisten und mehr sehen als die Auftritte der Exekutive.

Verhältnis zwischen Parlament und Staatsbürgern

Aus einer solchen Perspektive wäre es eine vordringliche Aufgabe der Parlamente, dafür zu sorgen, dass sich reflektierte Staatsbürger von ihnen auch als solche gesehen, gehört und angesprochen fühlen können. Vor allem aber: Je mehr ein Parlament sieht und hört, desto eher kann es selbstbewusst wie selbstkritisch unterscheiden zwischen einem faschistoiden Angriff wie am 6. Jänner und einem formal regelwidrigen Angegangen-Werden, mit dem ein genuin demokratisches Anliegen vorgebracht wird.

Wie wichtig diese Kompetenz ist, sieht man nicht zuletzt daran, dass auch den Suffragetten in London Anfang des 20. Jahrhunderts Parlamentserstürmung vorgeworfen wurde, wo wir heute einen nötigen und vielleicht notwendig ruppigen Augenöffner sehen. Es kommt eben darauf an.