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Ein Leitbild für Europa

Von Reinhard Viertl

Gastkommentare
Reinhard Viertl war Vorsitzender der Bundeskonferenz des wissenschaftlichen Personals der österreichischen Universitäten und Ordinarius für Angewandte Statistik an der Technischen Universität Wien.
© privat

Was es für den Zusammenhalt der Gemeinschaft braucht.


Es scheint die allgemeine Übereinkunft zu geben, dass ohne sinnstiftende Ideen eine Gemeinschaft nicht auf Dauer bestehen kann. Daher sind von vielen Mitgliedern akzeptierte Grundwerte - also ein Leitbild - von großer Wichtigkeit. Betrachtet man die publizierten Wertvorstellungen der Europäischen Union - humanistisches Denken, Rationalität, Säkularität, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte -, so sind diese wertvoll, aber als sinnstiftende Ideen zu wenig, was sich unter anderem in der zu beobachtenden Politikverdrossenheit zeigt.

Was könnte die Bürger Europas emotional für den Zusammenhalt der Gemeinschaft motivieren? Meines Erachtens sind dazu auch allgemein akzeptierte Moralvorstellungen, konkrete Gerechtigkeitsforderungen, Verantwortung gegenüber der Natur, die unsere Lebensgrundlage ist, Solidarität mit Benachteiligten sowie Menschenpflichten, abhängig von den Begabungen der Personen, als Wertvorstellungen notwendig und entsprechend zu formulieren.

Konkret wären diese Ideale folgendermaßen zu umreißen:

Als Erstes sind Moralvorstellungen im Sinne einer gemeinschaftsbildenden Ethik zu formulieren. Als Grundlage können unter anderen jene friedfertigen moralischen Forderungen dienen, die alle Religionen gemeinsam haben. Dies ist aber zu wenig und muss um weitere Ethikkomponenten ergänzt werden, wie Gerechtigkeitsforderungen, Verantwortlichkeiten und gemeinschaftsbildende Ideen.

Konkrete Gerechtigkeitsforderungen wären die Beseitigung von Privilegien aufgrund der Geburt oder der Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe. Daneben wären angemessene Begrenzungen von Gehältern nach unten und oben sinnvoll, um den Gemeinschaftssinn zu stärken.

Die Verantwortung gegenüber der Schöpfung ist im Sinne einer dauerhaften Nutzung der Natur zu verstehen, die allen Menschen zu Gute kommt und auch künftigen Generationen weltweit ein gutes Leben ermöglicht. Dabei ist die Begrenztheit der Ressourcen unseres Planeten zu berücksichtigen. Die (unbeschränkt mögliche) Hinwendung zu Mitmenschen ist eine gigantische Möglichkeit zur Verwirklichung einer wünschenswerten Gemeinsamkeit.

Ein wichtiges Anliegen ist das Mitgefühl für andere Menschen und für Tiere. Solidarität ist die Realisierung von Mitgefühl, indem eine wohlhabende Gesellschaft Benachteiligte so ideell und materiell unterstützt, dass diese sich als wertgeschätzte Mitglieder empfinden können. Dies betrifft auch die wertschätzende Akzeptanz verschiedener Lebensentwürfe und Gesellschaftsvorstellungen, solange sie grundlegende Wertvorstellungen erfüllen.

Neben diesen Grundsätzen sind von den Mitgliedern einer wünschenswerten Gemeinschaft auch verbindliche Menschenpflichten einzufordern: Mitgefühl, Sorgfalt, Fleiß und redliches Bemühen, begabungsabhängige Beiträge der Mitglieder zum Gemeinschaftsleben sowie Anständigkeit, Friedfertigkeit, Toleranz und friedliche Austragung von Konflikten durch konstruktive Kooperation.

Eine Gesellschaft, welche die genannten Forderungen als Werte im Sinne einer gemeinschaftlichen Ethik akzeptiert und berücksichtigt, müsste ein sinnerfülltes Leben aller Menschen auf dauerhafte Weise ermöglichen.