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Der Kulturbetrieb muss in der Krise umdenken

Von Michael Wimmer

Gastkommentare

Stehen wir vor einer Renaissance der Kulturpolitik?


Es gibt wenige Anzeichen dafür, dass der Kulturbetrieb schon bald wieder dorthin zurückkehren wird, wo er im März 2020 aufgehört hat. Um der zermürbenden Verunsicherung Einhalt zu gebieten, fordern immer mehr Verantwortliche von der Politik, eine Wiedereröffnung schon in den nächsten Wochen erst gar nicht in Aussicht zu stellen. Nur so ist es möglich, Planungssicherheit zu schaffen. Und wir alle erhielten die Möglichkeit, noch einmal grundsätzlicher darüber nachzudenken, wie eine dynamische Kulturpolitik in der aktuellen Transformationsphase aussehen könnte und welche Chancen sich für den Kulturbetrieb daraus ergeben.

In der türkis-grünen Regierungserklärung 2020 findet sich die Absicht, eine gesamtösterreichische Kunst- und Kulturstrategie zu entwickeln. Davon ist bisher nichts zu bemerken. Immerhin hat Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer zuletzt durchblicken lassen, wie ein Betrieb nach der Pandemie - aus ihrer Sicht frühestens in der Saison 2022/23 - aussehen könnte. Sie setzt dabei auf einen bereits von Ex-Kulturminister Josef Ostermayer eingeleiteten Trend der Regionalisierung der Kunst- und Kulturförderung. Also ist abzusehen, dass die Länder - vor allem bei der Individual- und Projektförderung - künftig noch stärker in die Pflicht genommen werden. (Davon wird sich der Bund auch durch erste Meldungen über einschneidende Kürzungen von Landeskulturbudgets, etwa aus Vorarlberg, nicht umstimmen lassen.) Im Gegenzug ist damit zu rechnen, dass die im Bundeskunstförderungsgesetz ausgewiesenen Förderkriterien der Beispielhaftigkeit, Innovation und überregionalen Bedeutung künftig restriktiver ausgelegt werden.

Konzentration auf die großen Kultureinrichtungen

Statt einer Vielzahl an Einzelförderungen wird sich der Bund auf die rechtlich gut abgesicherten Bestandsinteressen der großen Kultureinrichtungen konzentrieren. Sie führten als verlängerter Arm der internationalen Tourismusindustrie zuletzt ein ziemliches Eigenleben. Mit dem Ausbleiben eines zahlungskräftigen Publikums erinnern sie sich an ihren Eigentümer, der den Bestand sicherstellen soll. Mayer spricht noch recht vage von einer Neuorientierung weg von Quantität hin zu mehr Qualität. Sie fordert eine Rückbesinnung auf die eigenen Bestände sowie eine neue Kooperationsbereitschaft untereinander, um ein ausuferndes, dazu klimapolitisch bedenkliches internationales Kulturbusiness auf den Boden der neuen Realitäten zu stellen.

Weite Teile des freien Sektors haben bereits in den vergangenen Jahren in prekären Verhältnissen agiert. Mit jedem weiteren Tag der Pandemie wird offensichtlicher, dass viele Akteurinnen und Akteure die Krise nicht überleben werden. Tief frustriert denken heute viele ans Aufgeben. Mayers Aussagen widerlegen in keiner Weise die Vermutung, dass ihr diese Art der erzwungenen "Flurbereinigung" ganz recht ist. Dafür spricht, dass in den kulturpolitischen Diskussionen der vergangenen Tage immer wieder von einer "Überhitzung der Szene" die Rede ist; demnach hätte die bestehende Förderlogik eine "Projektitis" befördert, für die keine ausreichende Nachfrage mehr existiere. Also ruft Mayer nach weniger Events beziehungsweise Produktionen, um so den Kulturmarkt wieder auf ein "Normalmaß" abzukühlen. Denjenigen Initiativen aber, die die Krise überleben werden, empfiehlt sie, verstärkt Kooperationen mit etablierten Einrichtungen einzugehen, um so die Trennung zwischen dem freien und dem institutionellen Bereich zu überwinden.

Real sinkende Mittelfür Kunst und Kultur

Wenn sich die Staatssekretärin rühmt, für den Kunst- und Kulturbereich im Jahr 2021 eine Erhöhung des Förderbudgets um rund 30 Millionen Euro herausgeschlagen zu haben, so handelt es sich dabei um einmalige Maßnahmen vor allem für die Salzburger und Bregenzer Festspiele sowie die Europäische Kulturhauptstadt 2024, Bad Ischl, und nur zu einem geringen Teil zugunsten der freien Szene. Danach sind in der mittelfristigen Budgetvorschau real sinkende Mittel für Kunst und Kultur vorgesehen.

Damit verbundene Einsparungen kollidieren notwendig mit Bemühungen um "Fair Pay". Sie werden notwendigerweise dazu führen, dass weniger Produktionen gefördert werden können, wenn faire Gagen gezahlt werden sollen. Bleibt zu erwähnen, dass mit dem Fortgang der schwersten Wirtschaftskrise seit den 1930ern die Budgets einer Reihe von Städten und Gemeinden in beträchtliche finanzielle Turbulenzen geraten werden. Damit könnte ein weiterer wichtiger Haltegriff der Kunst- und Kulturförderung ausfallen. Die einzige Chance für Künstlerinnen und Künstler besteht darin, bei ihrem künstlerischen Tun weniger auf öffentliche Förderung zu vertrauen und stattdessen ein außerkünstlerisches Standbein zur Existenzsicherung zu suchen. Von einem bedingungslosen Grundeinkommen für künstlerisch Tätige war jedenfalls bei Mayer nicht die Rede.

Das alles sind keine guten Nachrichten für die Zukunft einer auf Vielfalt gerichteten Kunst- und Kulturlandschaft. Stattdessen werden wir Zeuginnen des durch die Krise erzwungenen Endes eines historisch gewachsenen Förderwesens, das sich bereits vor der Pandemie schwergetan hat, die zum Teil dramatischen Veränderungen der gesellschaftlichen Realitäten zu antizipieren. Wenn zuletzt immer wieder der Zusammenbruch des kulturpolitischen Diskurses beklagt wurde, so liegt das unter anderem daran, dass der Staat schlicht keinen Bedarf für die Fortsetzung des Kunst- und Kulturbetriebs in seiner gegenwärtigen Verfassung hat. Also wird der zersplitterte und sich in vielfachen Konkurrenzen ergehende Kulturbetrieb nicht darum herumkommen, sich in gemeinsamer Anstrengung zu ermächtigen und seinen Repräsentantinnen und Repräsentanten mithilfe zeitgemäßer Argumente zu erklären, worin seine Bedeutung liegt. Hinweise auf die "Kulturnation Österreich" werden da nicht mehr ausreichen (außer man hat die Absicht, damit die Rechtspopulisten zu stärken).

Beziehung zumPublikum neu denken

Als aussichtsreicher könnte sich die Bereitschaft der Akteurinnen und Akteure erweisen, selbst umzudenken und ihr Tun gegenüber dem großen Rest der Gesellschaft auf neue Weise zu begründen. Der britische Kurator Jasper Sharp hat dazu in einem "profil"-Interview eine gute Grundlage geschaffen: Statt sich weiter in überkommener Kunstexegese zu erschöpfen, lädt er den Kulturbetrieb dazu ein, seine Beziehung zum Publikum neu zu denken. Gerade als selbst Kulturschaffender sei es ihm wichtig, wahrzunehmen, was außerhalb der kulturbetrieblichen Wände passiert. Es gelte, den intellektuellen Enklaven zu entkommen und engere Beziehungen mit denen zu knüpfen, für die der Kulturbetrieb sein Angebot erstellt. Dabei ist sich Sharp in einem Punkt mit Mayer einig: "Wir sollten weniger über Besucherzahlen nachdenken als über Besuchererfahrung."

Zumindest in Teilen des Kulturbetriebes orte ich in dieser Phase des Umbruchs die Bereitschaft, überkommene Genregrenzen zu überwinden, aufeinander zuzugehen und auf neue Weise über sich nachzudenken. Nicht zuletzt gilt es, die zuletzt verloren gegangenen Bezüge zu den Lebens- und Arbeitsverhältnisse derer, die die Folgen der Krise zumindest ebenso dramatisch erfahren, wie sie selbst, wiederherzustellen. Dies beinhaltet auch die Entwicklung neuer Qualitätskriterien, die sich nicht in der Affirmation einzelner herausragender Kunstwerke erschöpfen. Für die Weiterentwicklung erscheint die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit des Kulturbetriebs mindestens ebenso wichtig, wenn es gilt, das Publikum in partizipativer und interaktiver Weise in das Kunst- und Kulturgeschehen miteinzubeziehen.

Neue Experimente wagen, Kooperationen bilden

Zurzeit gibt es keinerlei Indizien, dass der Staat nochmals die kulturpolitische Initiative ergreifen wird, um eine konzise Strategie für die Zeit nach Corona vorzulegen. Wohl auch deshalb, weil die bis dato ehernen Grenzen zwischen öffentlicher Hand, privatem Unternehmertum und zivilgesellschaftlichem Engagement in Auflösung begriffen sind. Umso wichtiger erscheint es, innerhalb des Kunst- und Kulturbetriebs neue Experimente zu wagen, Kooperationen zu bilden, sich auf die Suche nach neuen Organisations- und Finanzierungsformen zu machen, die digitale Transformation als Chance zu begreifen, Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaft und anderer Politikfelder für die eigenen Fähigkeiten zu interessieren und neue Allianzen mit dem Publikum einzugehen. Die Initiative für eine künftige Kunst- und Kulturstrategie muss von der Szene selbst ausgehen; der Staat, der seine schützende Hand kraftvoll und steuernd über den Kulturbetrieb zu legen vermag, wird nach der Pandemie nicht mehr wieder auferstehen.