Zum Hauptinhalt springen

Komm, süßer Tod

Von Michael Kos

Gastkommentare
Michael Kos ist Bildhauer, Objektkünstler und Autor in Wien und in Retz (Niederösterreich). Seine aktuelle Wiener Ausstellung "Lose Formation" soll nach dem Lockdown im Kunstraum Nestroyhof zu sehen sein (www.michaelkos.net).
© Eva Kelety

Häretische Gedanken zum Corona-Lockdown.


Schwere Erkrankung, Übersterblichkeit, Kapazitätsgrenzen der medizinischen Versorgung: Das mediale Crescendo zu diesen Bedrohungsfeldern steht in einem merkwürdigen Gegensatz zur Stille des öffentlichen Denkens. Seit geraumer Zeit verfolgt mich der Eindruck, als ob die Denker und Philosophen hierzulande die Pandemie aussäßen, um nach erfolgreicher Durchimpfung und -seuchung der Bevölkerung erst mit der Nachbesprechung zu glänzen. Als ob Corona-Krise und Kritik im Doppelpack nicht zumutbar wären.

Vielleicht ist das auffällige Schweigen der sonst Beredten einem besonderen Dilemma geschuldet. Denn d’accord mit dem Mainstream - respektive mit Regierungslinie - zu gehen, steht der Position des kritischen Aufmerkens zu keiner Zeit gut an. Andererseits provoziert derzeit wohl jeder intellektuelle Widerspruch sein Autodafé. Das ist auch nachvollziehbar angesichts des Albdrucks an meinungsmachender Expertenschaft, die mittlerweile jedes Gegendenken flugs der rechten Ecke oder den Verschwörungstheorien zurechnet. Leider gibt es durch das signifikante Vakuum der Intellektuellen keinerlei dritte Bastion, die eine ausgleichende Kraft zwischen agitativer Schwurbelei und Linientreue bilden könnte.

Entgegen einer breiten Meinungsfront von erfahrenen Wissensvermittlern sind Österreichs Schüler und Student in die Privatsphäre ge-lockt worden, um dort in Eigenregie am zukünftigen "Summa cum laude" zu basteln. Vielleicht wird es bald einmal analog zum psychologischen Begriff der Hospitalisierung eine pädagogische Lesart davon geben, wenn unsere Jugend mittels Homeschooling zu steril Gebildeten heranwächst. Denn vor allem soziales Lernen sieht anders aus.

Es ist eine Frage simpler Deduktion: Wenn Drastik das politische Gebot der Stunde ist, werden amtliche Zahlen dann drastisch oder sachlich illustriert? In Österreich wurden bisher mehr als 7.700 offizielle Corona-Tote vorgerechnet, und die Infiziertenzahlen sind zum täglichen Fixstern wie der Dow Jones mutiert. Ungefähr ein halbes Jahr Krise mussten die sonst unbestechlichen "ZiB"-Anchormen um die sublime Seriosität ringen, zwischen "an" und "mit" Corona Gestorbenen zu differenzieren. Die redliche Grenzziehung dazwischen erweist sich freilich als so geschmeidig wie manch fiebrige Polka zwischen absoluten und relativen Zahlen.

Jonglierfreudige Experten

Der erste Tote nach empfangener Corona-Impfung war ein 90-jähriger Schweizer mit multimorbider Vorerkrankung. Ein unglaubliches Medienaufgebot befleißigte sich, jeden Verdacht auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Tod und Impfung zu zerstreuen. Vice versa braucht es jedoch keinerlei Kausalität, um der sinisteren Zahl der Corona-Toten anzugehören - hier reicht Koinzidenz. Wenn jede positive, bis vier Wochen zurückliegende Covid-Testung die Zuzählung eines Todesfalls zur Corona-Sterberate legitimiert, so kann diese Rubrik nur als tendenziöse gelesen werden. Die Spitäler führen Listen, die zumindest "an Corona" und "im Zuge von Corona Gestorbene" unterscheiden. Diese duale Begrifflichkeit wird kaum von den Medien und schon gar nicht von der Regierung kommuniziert. Denn die numerische Aufpolierung durch eine Gesamtzahl trägt viel zur Dramatik bei, mit der ein Lockdown nach dem anderen mitbegründet wird.

Österreichs Experten zeigen sich jonglierfreudig. Mitte Jänner 2021 verzeichnete die Statistik Austria für das Corona-Jahr 2020 eine Übermortalität von 10,9 Prozent gegenüber dem Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre - die Schnittrechnung machte bei 90.123 Gestorbenen eine relative Differenz von 8.858 Personen aus. Erst zwei Wochen später fällt es auf: Laut derselben Statistik gab es in diesem Jahr "nur" 6.312 Corona-Tote, die zudem äußerst freizügig berechnet waren. Das Problem: Was macht man nun mit dieser absoluten Differenz von 2.546 Toten? In vorauseilendem Corona-Gehorsam findet die Statistik sofort das erlösende Argument, dass es "eine leichte Untererfassung bei den offiziellen Covid-Todesfällen geben könnte".

Die Corona-Krise scheint uns an solche unwägbaren Informations- und Deutungshoheiten gewöhnen zu wollen. Aber ist es angesichts des erneut verlängerten Lockdowns nicht eher hausverständlich als häretisch, unbequeme Gedanken sukzessive lauter zu denken? Könnten diese 2.546 Personen vielleicht als erste Markierung einer neuen Kategorie gelten, etwa Lockdown-Tote sein? Warum werden Stellungnahmen darüber, wie nachhaltig negativ sich die gesamtgesellschaftlichen Sperrzeiten auswirken würden, so generös negiert? Ist es der Weisheit bester Schluss, durch überbordende Regulierungen die Brüchigkeit des demokratischen Niveaus und die tiefe Rezession der Wirtschaft in Kauf zu nehmen? Ist das potente Füllhorn des Staates, mit dem die Löcher der Kollateralschäden nun gestopft werden, nicht eine ungeschminkte Anleihe an unsere Zukunft, deren Schlussrechnung nichts Gutes ahnen lässt?

Teure Unverhältnismäßigkeit

Blieb es wirklich unverstanden oder war es Kalkül der Regierungsparteien, den Lockdown im Frühjahr 2020 mit der natürlichen Abflachung des Infektionsgeschehens zu verknüpfen? Wurde diese Maßnahme nicht viel zu billig als weitsichtige Strategie rechtzeitig vor der Wien-Wahl ausgegeben? Tragen im Gegensatz dazu die Lockdowns im Spätherbst und Winter nicht spürbar das Stigma relativer Fruchtlosigkeit? Und hatte nicht genau das die Erfahrung mit ähnlichen viralen Verläufen prophezeit? Wäre es nicht ökonomischer gewesen, bereits im Frühjahr 2020 mit einer Intensivschulung aller rekrutierbaren Pflegekräfte zu beginnen und damit nachhaltige Kompetenzen und Kapazitäten für die Häufung von Intensivpatienten zu schaffen, als sich in eine millionenschwere Ampelspielerei zu verstricken?

Es verwundert nicht, wenn sich aktuell bloß teure Unverhältnismäßigkeit am Horizont abzeichnet. Bis zu einer neuerlichen saisonalen Entspannung der Viruskurve wird uns das Schicksal des Dahinzitterns zwischen abgehetzten Öffnungen und Schließungen des gesellschaftlichen Lebens erwarten. Der Heilige Gral Impfung muss in dieser Phase natürlich gebührende Antizipation erfahren. Nach einem Jahr Corona sorgt eine medizinische Inquisition daher weiterhin für die Warnmeldungen des Tages und belegt die Meckerer der Zunft mit Maulkorberlass oder Berufsverbot. Angesichts solcher populistischen Minenfelder üben sich die Skeptiker lieber in galileischer Schläue und warten auf weniger echauffierte Zeiten. Denn das Geschäft mit der Angst und mit angstmachenden Zahlen brummt gerade lautstark und droht auch dem vorsichtigsten Zweifel mit einer moralischen Sackgasse.

Steigender Ärger

Das tiefere Problem des tendenziösen Aufrechnens von Toten liegt letztlich in der Verödung eines vielschichtigen, kulturell erworbenen Panoramas, mit dem wir der unausweichlichen Gewissheit des Sterbens bisher recht gut beikommen konnten. Johann Sebastian Bachs musikalische Anrufung "Komm, süßer Tod!" muss als heftige Geistesverwirrung gelten, wenn nur noch das schulmedizinische Diktum einer Lebensverlängerung um jeden Tag und jeden Preis unsere Synapsen beherrscht. Wenn das Sterben um jeglichen Aspekt eines auch tröstlichen oder gar verlachten Todes gebracht wird und einzig als Killerargument dient, ist jeder offene Diskurs, der gesellschaftlich kathartisch für dieses weite Thema wirken könnte, im Ansatz erstickt. Damit gerät jede noch so leise Skepsis an der Sinnhaftigkeit mancher Corona-Maßnahmen flugs unter den Generalverdacht der Pietätlosigkeit. Aber vergessen wir nicht gerade im Kollektiv, dass jeder Tod traurig sein mag, aber nicht immer eine Tragödie?

Früher durfte Irren menschlich sein und einige Hauptkapitel der Wissenschaftsgeschichte schreiben. Insofern ist es erstaunlich, wie sakrosankt all die auserkorenen Pandemieexperten ihre Erkenntnisse an die Regierungsmannschaften verkaufen durften und wie groß in einer fraglos großen Krise auch die Verweigerung für einen dialogischen Durchschnitt von These und Antithese blieb, in dessen Licht manche Maßnahmen vielleicht bedachtsamer und weniger demokratieverächtlich gesetzt worden wären. Diese Synthese ist übrigens auch das Ziel jeder ernsthaften Kritik. Das dramaturgische Gegenstück dazu ist Macht, sie braucht keine zweite Meinung - worüber auch den Österreichern gerade ein schmerzhaftes politisches Lehrstück dargeboten wird. Der steigende Ärger darüber ist in allen Bevölkerungsschichten nicht mehr zu verhehlen, und das Vertrauen in ein bedachtes Staatsmanagement zeitigt tiefe Risse.