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Digitaler Raum in analoger Stille

Von David Sailer

Gastkommentare

Der Lockdown und seine Widersprüchlichkeiten - von ferner Nähe zur Kraft der Stille.


In pandemischen Zeiten verflüchtigen sich wohlbekannte Gewissheiten. Erscheint die Zukunft ungewiss, greifen gefühlter Stillstand und anhaltende Stagnation um sich. Doch was geschieht, wenn der Krise selbst jegliche Dynamik abhandenkommt und unser Leben sukzessive in den digitalen Raum verlagert, gleichsam verräumt wird? Digitale Räumlichkeit zwingt dazu, mit einigen gewohnten Raumvorstellungen aufzuräumen. Sie entsteht als Phänomen und wird überall dort, wo sich zwischenmenschliche Interaktionen in spezifisch gewordenen virtuellen Räumen ereignen, lesbar. Menschen arbeiten, lernen, leben und kommunizieren virtuell, besuchen Kulturangebote, Schulen und Unis oder finden sich an Arbeitsplätzen ein, ohne je die betreffenden Gebäude auch nur zu betreten. Sie befinden sich in Räumen ohne Örtlichkeit, treffen einander ohne Lokalisierung im topografischen Sinn.

Überall wurde in den vergangen Monaten digitale Räumlichkeit durchlebt. Sie wird erfahrbar im Homeoffice in digitalen Meeting-Räumen und Zoom-Calls; lesbar in virtuellen Ausstellungen, Theater- und Opernvorstellungen; sichtbar in digitalen Klassenzimmern und Uni-Seminarräumen. Seit kurzem ist sie sogar in der exklusiv anmutenden Variation virtueller Diskussions- und Networking-Räume (Stichwort: Clubhouse-App) zu finden; und sie war es zuvor bereits in neuen, immersiven VR-Technologien.

Digitales Raumverstehen ermöglicht zudem einen geänderten Blick auf unser Zusammenleben in distanzierten Zeiten. Denn virtuelle Interaktion und digitales Zusammenleben auf Abstand versprechen Distanzverknappung, suggerieren Anschluss und damit auch Anschlusskommunikation (so der Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann). Fernes und Distanziertes werden im Wirkungsraum des Digitalen unmittelbar zugänglich: Das Gegenüber könne erreicht werden, lautet das zentrale Versprechen. Konnektivität und das Erlangen von Reichweite bleiben indes genau das: Verbundenheit ohne Berührung; zwischenmenschlicher Kontakt, aus dem keine Nähe entsteht.

Berührungen, affektive und zwischenmenschliche, sind für Bindungen und den innergesellschaftlichen Zusammenhalt entscheidend. Im realweltlich-analogen Leben oftmals distanziert und vereinzelt, duplizieren und vervielfältigen wir uns im Digitalraum, erschaffen digitale Surrogate unserer eigenen Person. Theatralen Inszenierungen gleich durchbricht die Digitalräumlichkeit die sogenannte vierte Wand, jene zum Publikum hin: Durch und am digitalen Raum dringt eine Sphäre der Öffentlichkeit bis ins Private ein. Der digital-halböffentliche Raum begleitet und verfolgt die Menschen bis weit in deren Zuhause.

Eine Form von Verheißung

Im Kontext neuer Lebens- und Arbeitsweisen bildet der digitale Raum weniger einen virtuellen Zufluchtsort, sondern den letztverbliebenen Akt des kommunikativen Anschlusses in einer ansonsten still gewordenen Welt. Seine enorme Dynamik und rasende Geschwindigkeit kulminieren in einer Form von Verheißung, die wie ein Ausweg aus dem allumgreifenden Verstummen erscheint. Es ist anstrengend, diese Stille zu durchfühlen. Als eine von außen herbeigeführte Stagnation mutet Stillstand bedrohlich an. Er erschöpft und erfordert kräftezehrendes Ausharren in Zeiten brüchiger Perspektiven. Zugleich kann nicht-moderierter Stillstand, Gewitterzellen gleich, aufgrund zu hoher Spannung zu innergesellschaftlichen Entladungen führen.

An der Oberfläche wirkt er wie ein Gegenprogramm zum modernen Fortschrittsglauben. Erst bei näherer Betrachtung erkennen wir, dass nicht jede Stille kulturell negativ konnotiert sein muss. Vom Ruhepol der Besinnlichkeit über die innere Einkehr des Silentiums bis zur Erhabenheit des Zenits: Die in sich ruhende Unbewegtheit einer möglichen Bewegung kündet von Kraftvollem; von einer Intensität zwischen "silentium" und "tranquillitas", zwischen Stille und Ruhe. Der Ruhezustand als Festigkeit der Seele dringt ins Nahefeld altgriechischer Unerschütterlichkeit, "ataraxía", vor und entfaltet dort seine vollkommene Wirkungskraft.

Entrückte Zeithorizonte und das Entziehen von Leben werden als Leere empfunden; die lähmende Mesalliance von Entrückung und Entzug erschöpft und bedrückt. Das Durchfühlen dieses Bedrückens ist ein Gewicht, das wir jedoch nicht als Last, sondern als an uns gestellte Aufgabe wahrnehmen sollten. Sie als kollektive Aufgabe zu tragen, heißt Verantwortung zu übernehmen, in Anerkennung und gegenseitigem Respekt. Wir mögen unter dem spezifischen Gewicht schwanken, moralisch und lebenspraktisch. Und es mag ärgerlich, frustrierend, desillusionierend oder unendlich mühsam erscheinen. Doch im Zweifelsfall hilft es stets, sich an das Diktum Karl Poppers zu erinnern: "Es ist nichts Schlechtes an der Mühe."