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Brüssel, wir haben ein Problem

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Warum sich von der Leyen den Rücktritt der EU-Kommission 1999 zum Vorbild nehmen sollte.


Als sie im Dezember 2019 das Klima-Paket der EU vorstellte, sprach Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in salbungsvollem Tone: "Das ist Europas ‚Mann auf dem Mond‘-Moment." Jetzt, ein gutes Jahr später, muss sie sich von dem deutschen Publizisten Gabor Steingart verhöhnen lassen, das Versagen der EU rund um die Beschaffung der Corona-Impfstoffe sei eher ihr "Apollo-13-Moment"; jene Mond-Mission, die nach einer Explosion an Bord mit einer Notwasserung im Pazifik endete statt mit einer Landung auf dem Mond.

Ein passender Vergleich, der eine Frage nahelegt: Ob ein Rücktritt der offensichtlich überforderten Kommissionspräsidentin, möglicherweise auch der ganzen EU-Kommission, nicht angemessen wäre. Immerhin hat es das schon einmal gegeben. Im März 1999 trat die ganze Kommission unter dem damaligen Präsidenten Jacques Santer zurück, nachdem das Europäische Parlament damit gedroht hatte, alle Kommissare per Misstrauensantrag abzusetzen. Der Grund war damals, im Vergleich zu dem tausende Menschenleben und Milliarden Euro kostenden Impf-Chaos, ein eher läppischer: Einige Mitglieder der Kommission waren bei finanziellen Ferkeleien ertappt worden. Wenn das ein Grund für den Rücktritt der europäischen Exekutive ist, dann müssten die heutigen Insassen der obersten Geschosse des Berlaymont-Gebäudes schon längst ihre Büros geräumt haben. Doch danach sieht es nicht aus. "Bisher deutet nichts darauf hin, dass die Kommissionschefin wegen der langsam anlaufenden Impfungen ihren Job verlieren wird", gab jüngst etwa die "WirtschaftsWoche" Entwarnung. Vorerst allerdings nur: "Europa ist geeint - wenn auch nur im Zweifel an den Leadership-Fähigkeiten der EU-Kommissionspräsidentin." ("Focus")

Dabei ist mittlerweile klar, was da alles schiefgelaufen ist. Die USA orderten etwa unter dem vermeintlichen Trottel Trump am 21. Mai 2020 bei gleich fünf Herstellern riesige Mengen noch längst nicht zugelassener Impfstoffe. "Es ist riskant, es ist teuer, aber wir werden enorm viel Zeit sparen", hatte Trump damals erklärt - was rückblickend betrachtet schlauer war als die lahme Gangart der Union. Dazu kommt, dass die USA deutlich mehr Geld in die Entwicklung von Vakzinen gesteckt haben als die EU: Während die Trump-Administration dafür rund zehn Milliarden Dollar lockermachte, war das der EU gerade ein Drittel dieses Betrages wert, wie eine Studie der "London School of Economics" ergab. Zu viel Zeit gelassen, zu wenig Geld in die Hand genommen - die EU ist nun ein Notstandsgebiet in Sachen Impfung. Dafür die Kommissionspräsidentin alleine verantwortlich zu machen, wäre freilich nicht angemessen. Die Mitgliedsstaaten mit ihren industriepolitischen Partikularinteressen haben da, Frankreich allen voran, eine eher unrühmliche Rolle gespielt; auch das Europäische Parlament hat mit Druck auf die Kommission, möglichst viel Haftung an die Hersteller zu übertragen, einiges an Zeitverlust verursacht. Das ändert aber nichts daran, dass die EU als Institution an einer historischen Aufgabe in einem Maße gescheitert ist, das nicht achselzuckend hingenommen werden kann. "Für einige Spitzenpolitiker, darunter Ursula von der Leyen, ist das ein Fiasko mit dem Potenzial, die Karriere zu beenden", analysiert die "Financial Times". Das Schicksal der Santer-Kommission weist da den richtigen Weg.