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Impfen zwischen Evidenz und Meinung

Von Peter Moeschl

Gastkommentare

Warum so viele Wissenschafter, oft auch die Besten unter ihnen, die Öffentlichkeit meiden.


"The absence of evidence is not the evidence of absence" - das Fehlen von Beweisen ist nicht der Beweis des Fehlens. Oder, anders ausgedrückt, etwas nicht beobachtet zu haben, ist kein Beweis seiner Inexistenz. Das gilt in der Wissenschaft ebenso wie im Alltag. Allerdings sind in der Wissenschaft spezifische, logisch anerkannte Verfahren zur Herstellung und Überprüfung von Aussagen erforderlich, um Allgemeingültigkeit beanspruchen zu können. Und um dabei auch die Möglichkeit zur quantifizierenden Bewertung zu betonen, spricht man heute von einem sogenannten Evidenzniveau von Studien. Das ist gewiss anzuerkennen, schließlich hat es sich auch in der Praxis bewährt - zumindest in den Naturwissenschaften.

Die unter standardisierten Bedingungen zu erhebende Datenlage steht also im Zentrum der empirischen Naturwissenschaften. Es gilt für die durch Glauben und Meinen vorbelastete Medizin im Besonderen. Das aber ist heute, in Zeiten einer durch die Pandemie bedingten allgemeinen Notlage, zu einem dringlichen Problem geworden: Wie wir etwa derzeit erleben, bringt die (noch) insuffiziente Datenlage zur Wirksamkeit und zu den Risiken neu entwickelter Impfstoffe - man denke hier im Besonderen an AstraZeneca - die in den Zulassungsbehörden tätigen Wissenschafter in erheblichen Argumentationsnotstand.

Experten und Politik

Die Forscher dürfen nämlich gerade in der aktuellen Notsituation auch ungenügende und wissenschaftlich fragwürdig zusammengestellte Daten nicht einfach zurückweisen. Vielmehr sind sie gezwungen, diese lediglich als Hinweise zu den zu interpretierenden Daten öffentlich - ja, "objektiv" - zu bewerten. Das aber bedeutet für die Forscher nicht mehr und nicht weniger, als von ihren wissenschaftlichen Standards abzurücken und nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihre bloße Meinung als Surrogat einer, wie es heißt, expertengestützten Entscheidungsgrundlage der Politik zur Verfügung zu stellen. Das ist natürlich ein Horror für jeden Wissenschafter, der sich ernsthaft als ein solcher begreifen möchte - also als einer, der die methodisch gewonnene Evidenz der bloßen Plausibilität des Alltags entgegenhalten möchte. Nur so nämlich kann auch ein kontraintuitiv in Erscheinung tretendes Wissen zur adäquaten Darstellung gebracht und den anderen, ebenso wie sich selbst, vermittelt werden.

Wenn wir also derzeit zur Kenntnis nehmen müssen, dass die verschiedenen nationalen und internationalen Expertengremien zu unterschiedlichen Empfehlungen für die politische Umsetzung der sich noch im Fluss befindlichen Forschung kommen - man denke nur an die altersabhängig divergenten Impfempfehlungen beim Präparat von AstraZeneca -, so sind diese nicht einfach Ausdruck wissenschaftlicher Differenzen, sondern unterschiedlicher Meinungen, wie mit der uneindeutigen Datenlage politisch umgegangen werden soll.

Moralische Verantwortung

Es ist eine Kontroverse auf Basis bloßer Vermutungen, auch wenn diese von den Wissenschaftern selbst stammen. Und wenn auch die meisten Forscher der narzisstischen Verführung widerstehen, ihre von der Öffentlichkeit abverlangten Vermutungen zu äußern (und damit die ideologische Rolle von Politikern zu übernehmen), so können sie sich doch nicht einfach der Öffentlichkeit entziehen. Als Fachleute bleibt ihnen die moralische Verantwortung, den Laien in Zeiten der Not Orientierung zu bieten - und sei es durch bloße Meinungsäußerung. Die Folgen sind aber unlösbare Dilemmata. So braucht es dann nicht zu verwundern, dass sich viele Wissenschafter, und oft auch die Besten unter ihnen, sich am liebsten in ihr Labor "verkriechen" und die Öffentlichkeit meiden.

Anders die Intention der Politiker: Sie können und müssen in der Öffentlichkeit Haltung - und das heißt ihrem Verständnis nach Meinung - zeigen. Schließlich sind sie es, die entscheiden. Dass dabei des Öfteren die grundlegende Funktion von wissenschaftlichem Wissen verloren geht, wird von den Politikern selbst oft gar nicht bemerkt - aber das ist eine andere Geschichte.