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Die Städte brauchen eine neue Widmungspolitik

Von Peter Lorenz

Gastkommentare

Teures Wohnen, totaler Bodenfraß, hässliche Vorstädte, sterbende Bezirkszentren, verpasste Klimaziele - radikales Umdenken ist angesagt.


In den 1930ern hat der berühmte Architekt Le Corbusier die Trennung der Nutzungen begründet, die 1933 in die "Charta von Athen" mündete. Sie manifestierte die funktionale Trennung von Wohnen, Arbeiten, Industrie und Erholen für die Stadtentwicklung. Seither entstehen weltweit Wohngebiete weit weg von Arbeitsplätzen. Wertvolle Flächen gehen an monofunktionale Gewerbegebiete verloren, die auch als "Mistplätze der Nation" bezeichnet werden - einer der Gründe für explodierende Wohnbaukosten in den europäischen Städten. Niemand schert sich um großflächige Bodenversiegelung, die sich negativ auf das Stadtklima auswirkt. Last, but not least verursacht diese Widmungspolitik ein mittlerweile nicht mehr vertretbares Verkehrsaufkommen. Insgesamt sind die Vorstädte die Stiefkinder der Stadtplanung.

Seit den 1950ern gibt es deshalb scharfe Kritik aus der Fachwelt und es wird alternativ die "gemischte Stadt" empfohlen: Die Erdgeschoße sind dem Gewerbe und Handel vorbehalten, während das Wohnen und weitere Nutzungen darüber liegen. Das führt zu einem urbanen Stadtraum, einer besserer Lebensqualität, einem günstigerem Mikroklima, weniger Verkehr und langfristiger Wirtschaftlichkeit - und es entspricht der Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union. Auch die "Leipzig Charta 2007" - von allen 27 EU-Mitgliedern unterzeichnet - verlangt nach einer integrierten Stadtentwicklungspolitik und einer Aufwertung benachteiligter Stadtgebiete.

Dennoch ignorieren vermeintlich unangreifbare wirtschaftliche Interessen alle raumordnerischen Argumente. Einerseits werden bei der Emissionsreduktion hohe Ziele gesteckt, andererseits wird der Raum- und Stadtplanung viel zu wenig Bedeutung beigemessen. So verliert Österreich pro Jahr durchschnittlich 44 Quadratkilometer an produktiven Böden - in etwa die Fläche von Eisenstadt, weit weg vom Ziel der Bundesregierung von 9 Quadratkilometern pro Jahr. Damit ist Österreich trauriger europäischer Spitzenreiter. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die geplante Rodung von 12 Hektar einzigartigem Naturwald in Haiming (Tirol) zugunsten eines Gewerbegebietes. Die Proteste einer Bürgerinitiative und des WWF verhallen. Der WWF hat zudem gegen die Verbauung Österreichs die Petition "Natur statt Beton" ins Leben gerufen.

Den Stadtraum neu ordnen und dabei durchmischen

Wenn wir den "European Green Deal" und die Erreichung der UN-Klimaziele für das 21. Jahrhundert ernst nehmen, dann haben wir keine andere Wahl, als unseren Raum neu zu ordnen, unsere Vorstädte neu zu konzipieren und unsere Natur zu respektieren. Diese Phänomene hängen eng miteinander zusammen und verlangen verantwortungsvolle Entscheidungen über die Gestaltung der Zukunft für unsere Nachkommen.

Statt mit Stadterweiterungen werden wir uns mit der Urbanisierung großflächiger Vorstadtgebiete beschäftigen müssen. Anders als bisher hat im 21. Jahrhundert überlebensorientiertes Wirtschaften die Kriterien Stadt und Natur miteinzuschließen. Unsere Gewerbegebiete könnten so dicht und hoch wie die Innenstädte werden. Moderne Produktionsmethoden führen zu wohnungsverträglichem Gewerbe und ermöglichen eine "gemischte Stadt".

Auf dieser Basis müssen wir unsere Städte neu denken - und damit sind nicht unsere historischen Stadtkerne gemeint, sondern unsere Vorstädte und Gewerbegebiete. Bis auf die vergangenen Jahrzehnte zeigen alle Städte seit 5.000 Jahren ein enges Neben- und Übereinander von Wohnen, Handel, Gewerbe usw. Sie bleiben nach wie vor der Prototyp für eine gelingende Urbanisierung der Vorstadtgebiete in neuer, moderner Form. Eine Erhöhung der Dichte in den Gewerbegebieten schafft auch günstige Voraussetzungen für leistbaren Wohnraum: Die Infrastruktur ist großteils schon vorhanden, und die Grundpreise sind günstiger. Die Aufwertung der Grundstücke für die Eigentümer beträgt das Drei- bis Vierfache und ist im Sinne einer erfolgreichen Win-Win-Strategie eine wichtige Voraussetzung.

Nachverdichtung bestehender Betriebsgebiete

Einen ersten Schritt in diese Richtung gibt es seit 2017 in Deutschland: das "urbane Gebiet" als neue Baugebietskategorie, mit der Möglichkeit zur Festsetzung unterschiedlicher Geschoßnutzungen und einem höheren Immissionsrichtwert. Etwas weniger mutig, aber immerhin als österreichischer Vorreiter benennt Wien in seinem Stadtentwicklungskonzept "STEP 2025" die "produktive Stadt" - ein Bekenntnis gegen reine Gewerbegebiete und ihren verschwenderischen Flächenverbrauch sowie gegen das Verdrängen des Gewerbes aus den Städten. Das ist ein erster Fortschritt in der Nachverdichtung bestehender Betriebsgebiete.

Wie können wir uns nun diese "neuen Vorstädte" vorstellen?

Produktion und Gewerbe werden laufend wohnungsverträglicher;

leistbares Wohnen und Arbeiten auf Tankstellen, Märkten, Werkstätten;

weniger Autoverkehr, keine Parkplatzwüsten, keine Bodenverschwendung;

lebenswertes Grün, urbane Atmosphäre, Plätze . . .

Das ist eine Vision, die nicht nur ein Umdenken benötigt, sondern auch konkrete Novellierungen von Gesetzen. Die Metamorphose unserer Vorstädte rechnet sich als nachhaltig durchmischte Vorstadt, attraktiver Stadtraum und lebenswerte Urbanität.

Ein positives Beispiel für eine gemischte Nutzung ist das Projekt "Markt & Schule" in der Breitenfurter Straße im 23. Wiener Gemeindebezirk im Auftrag der österreichischen Buwog (Tochter des deutschen Immobilienkonzerns Vonovia): Die zweigeschoßige Atriumschule mit 17 Klassen befindet sich auf einem Lebensmittelmarkt, darunter ist das Parkdeck, darüber sind begrünte Freiflächen. Vier verschiedene Nutzungen wurden somit übereinander in vertikaler Schichtung zusammengefasst. Das schafft neue Urbanität in der Vorstadt. Gelungen ist dies in einer Atmosphäre guter Zusammenarbeit zwischen innovativer Politik, kooperativen Beamten, einem engagierten Architektenteam und einem offenen Auftraggeber.