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Der Rechtsstaat und die Weisungsfreiheit

Von Nikolaus Lehner

Gastkommentare
Das Justizministerium gehört bei Regierungsbildungen meist zur Restmasse.
© stock.adobe.com / romanple

Der Gesetzgeber sollte aus Fehlern lernen. Anlassfälle im Justizbereich sind auch Chancen für längst notwendige Reformen.


Den Schöpfern der Vorverfahrensreform der Strafprozessordnung, Werner Pleischl und Christian Pilnacek, gelang ein großer Wurf, der im Lauf der Zeit notwendigerweise in kleineren Details nachjustiert werden musste. Im Unterschied zu einem Artefakt der Kunst, das natürlich außer vom Künstler selbst niemals von einer dritten Person "behandelt" werden darf, manifestiert sich beim juristischen Gesetzeswerk sehr wohl die Berechtigung, dass Dritte sich am bisherigen Gesamtwerk abarbeiten.

So unerfreulich der Anlassfall der Ex-Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwältin Christiane Jilek ist: Wenn er tatsächlich zu einer Änderung des Weisungsrechtes führt, ist er eine Sternstunde des Rechtsstaates. Immerhin erklärte zuletzt ein Spitzenfunktionär der mächtigen Partei in der Regierungskoalition, dass er seine bisherige ablehnende Haltung gegenüber einer Reform des Weisungsrechtes aufgegeben hat, und auch der Leader seiner Partei vertritt nunmehr diese Meinung.

Eine Entpolitisierung der Staatsanwaltschaft durch Änderung der Weisungsspitze, nämlich vom Justizminister zu einem Bundes(general)anwalt, würde einer Entkoppelung der Justiz von der Politik zum Vorteil gereichen. Staatsanwälte sind wie Richter Organe der Justiz, haben dieselbe Ausbildung, müssen dieselben Prüfungen mit Auszeichnung ablegen. Es ist daher nicht einzusehen, warum nur richterliche Organe völlig unabhängig sind, während Organe der Staatsanwaltschaft Weisungen unterliegen.

Das Weisungsrecht wurde schon mehrmals reformiert; nunmehr müssen Weisungen schriftlich erfolgen und werden jährlich dem Parlament vorgelegt. Aber als Praktiker halte ich fest: Dem vorauseilenden Gehorsam wird dadurch nicht Abbruch geleistet. Denn der Referent weiß, wie sein Gruppenleiter tickt, dieser ist in Kenntnis, wie der Leiter der Staatsanwaltschaft ausgerichtet ist, und dieses Bild wiederholt sich über die Oberstaatsanwaltschaft und den zuständigen Sektionschef bis zum Minister. Wer dem entgegenhält, dass es ja noch den Weisungsrat gibt, verkennt, dass die Weisen als ehemals aktive anerkannte Persönlichkeiten vom Minister ernannt werden.

Vertrauensverlust der Gesellschaft in die Justiz

Neben den Weisungen manifestiert sich die Allmacht der Weisungsberechtigten gegenüber den Weisungsempfängern durch die "Stille Post", siehe die Dienstbesprechungen. Im Diskurs des Sektionschefs, des Leiters der Oberstaatsanwaltschaft, des Referenten und meist auch noch seines Gruppenleiters und manchmal auch des Chefs der Staatsanwaltschaft ist es ein Leichtes, eine Linie vorzugeben, ohne sie vorzuzeichnen. Jede schriftliche Weisung wird damit obsolet.

Der unhaltbare Zustand in der Justiz erinnert fast schon an die Zustände in den skandalumwitterten Dienststellen des Innenministeriums. Seit Jahren schwelt ein Konflikt zwischen zwei Behörden im Justizbereich, nämlich der Wiener Korruptionsstaatsanwaltschaft auf der einen Seite sowie der Oberstaatsanwaltschaft Wien und dem Ministerium auf der anderen. Fünf Justizminister waren - mit und ohne Weisung - in den vergangenen fünf Jahren nicht imstande, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Selbst eine Mediation half nichts. Der Kollateralschaden dieses medial ausgetragenen Konflikts, der in gegenseitigen Anzeigen und einer geheim aufgenommenen Dienstbesprechung mit Schreiduellen gipfelte, ist ein Vertrauensverlust der Gesellschaft in die Justiz.

Was hat der Rechtssuchende von einer solchen Justiz noch zu erwarten? Was denken sich die vielen kompetenten, fleißigen und routinierten, aber zum Schweigen verdonnerten Richter und Staatsanwälte über diese Zustände? Ihre Vorbildwirkung verblasst in der Öffentlichkeit angesichts dieses auch an Intrigen und Misstrauen reichen Trauerspiels. Für mich als emeritierten Anwalt grenzt es daher an ein Wunder, dass trotz dieser besorgniserregenden Zustände noch generell Rechtssicherheit und im Sinne Hans Kelsens relative Gerechtigkeit zu herrschen scheinen.

Eine Achillesferse könnte sein, dass vor allem in jüngerer Vergangenheit das Justiz- ebenso wie das Kulturressort bei der Bildung einer neuen Regierung stets Restmasse waren. Die Schlüsselressorts waren rasch durch die wenigen fähigen Personen besetzt. Den Job des Justizministers übernahmen dann zu versorgende Parteifunktionäre; diese der Partei oder ihrem Vorfeld nahestehenden Personen kamen dazu wie die Jungfrau zum Kind.

Zu stinken begann der Fisch vom Kopf aus, als es sich einbürgerte, dass die Minister neben den bisherigen, historisch gewachsenen Sektionen mit deren Beamtenschaft auch noch ihre eigenen Vertrauensleute, zum Teil mit hoch dotierten (Sonder-)Verträgen, weil sie ja nicht Beamte waren, auf einer den Sektionen übergelagerten Ebene, genannt Kabinett, einsetzten. Die hohe Fluktuation im Kabinett des Justizministeriums verstärkte eine strukturelle Instabilität.

Ein dankbarer Anlassfall um eine Staatsanwältin

Nun komme ich zu dem nicht nur für mich, sondern auch für die Justiz dankbaren Anlassfall, der freilich für die betroffene Staatsanwältin Jilek undankbar ist. Dankbar für die Justiz ist er, wenn beziehungsweise weil er endlich zur Reform des Weisungsrechtes führen wird. Undankbar für Jilek ist er, weil sie als Referentin in der Causa Ibiza im Verhältnis zu anderen Staatsanwälten über Gebühr kontrolliert wurde, indem sie in einem Zeitraum von gut einem Jahr neben ihrer eigentlichen Tätigkeit rund 180 Mal zu berichten hatte. Diese 180 Berichte stehen in keinem Verhältnis zu den (Machtmissbrauch vermeidenden) parlamentarischen Anfragen in dieser Causa.

In Jileks Fall kam es sogar zu einer "Ausstellung" (so wird in der Justizsprache ein Verweis genannt). Die beanstandete Referentin setzte sich mit einem Anwalt erfolgreich dagegen zur Wehr. Das Justizministerium musste diese "Ausstellung" zurücknehmen. Man stelle sich vor: Eine Staatsanwältin sieht sich außerstande, von der eigenen Behörde gerecht behandelt zu werden, und erst mit einer der Justiz fremden Person, nämlich einem Anwalt, wurde diese ungerechte Vorgangsweise saniert. Jilek sah sich aber weiterhin ungerecht behandelt und bewarb sich daher in einem anderen Bundesland in der Justiz für einen anderen Aufgabenbereich.

Obwohl nach dem Gesetz die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in einzelnen Bereichen weisungsfrei ist, wird sie im restlichen Aufgabenbereich statistisch gesehen viel öfter von der Oberstaatsanwaltschaft und vom Ministerium zu Berichten aufgefordert als andere Staatsanwaltschaften. Bei den Berichtspflichten im Allgemeinen gab es nie eine Kontinuität - unter dem einen Justizminister wurde die Berichtspflicht ausgebaut und oft vom selben Minister oder vom nächsten Minister wieder eingeschränkt.

Dogmatisch ist normiert, dass der Verdächtige rein pragmatisch die normativen Rechtsschutzmöglichkeiten ausschöpft, weshalb die Befassung des Parlaments als unsachlich anzusehen ist. Berichtspflicht und Weisungsrecht haben ademokratischen bis ständestaatlichen Charakter, wenn damit auf Basis der geltenden Strafprozessordnung die Gewaltenteilung in einem Staat ad absurdum geführt wird.

Abschließend verweise ich auf das Ergebnis des Österreich-Konvents unter dem Vorsitz des früheren Rechnungshofpräsidenten Franz Fiedler: Die Abschaffung des Weisungsrechtes und die empirische Evidenz durch Einsicht in die Bücher der politischen Parteien durch den Rechnungshof sind endlich umzusetzen.