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Immunität statt "Zero-Covid"

Von Reiner Eichenberger und David Stadelmann

Gastkommentare

Die Strategie von null Corona-Infektionen bedeutet heimliche Triage - mit mehr Schaden als Nutzen.


Den ersten Lockdown im März 2020 sahen viele als eine Art "Reset" und zweite Chance, das Coronavirus weitgehend zu besiegen. Doch die Kontaktnachverfolgungs- und Eindämmungsstrategien sowie der Schutz der Risikogruppen haben nur teilweise funktioniert. Mit der Impfung wäre nun die sehnlichst erwartete Erlösung da. Trotz Beginn der europäischen Impfkampagne im Dezember 2020 läuft die künstliche Immunisierung der Risikogruppen noch schleppend. Nun hoffen manche auf den Erfolg einer vollständigen Unterdrückungsstrategie (für das Virus) und fordern einen europäischen Lockdown, mit dem Ziel von null Infektionen ("Zero-Covid"). Dabei stellen sie das Virus in den Mittelpunkt, betreiben heimlich Triage und vergessen den Menschen mit all seinen Facetten zu berücksichtigen.

Weil zu Beginn der Pandemie Unsicherheit und Angst vor dem Virus groß waren, haben die Bürger viele Einschränkungen freiwillig mitgetragen. Bereits vor den offiziellen Lockdowns reduzierten sie ihre Aktivitäten stark. Doch seit Ende Sommer ist die Situation anders. Bei vielen ist die Angst um die eigene Gesundheit der Angst um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft gewichen. Das Wissen über die Risiken, aber auch die Vertrautheit mit dem Coronavirus sind gestiegen. Immer mehr Bürger kennen Mitmenschen, die eine Infektion einigermaßen glimpflich überstanden haben. Wissenschaftliche Studien erlauben klarere Risikoeinschätzungen: Hochbetagte und Menschen mit gewissen Vorerkrankungen sind höchst gefährdet. Der großen Mehrheit aber drohen bei allfälliger Infektion weit kleinere Risiken, als einige sonst freiwillig eingehen, etwa bei manchen Sportarten, beim Motorradfahren oder beim Rauchen.

Mittlerweile ist aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen auch klar, dass weitgehende Immunität aufgrund einer durchgemachten Infektion existiert und wenigstens mehrere Monate anhält. Die Zahl der Genesenen wächst weiter und ist unter Berücksichtigung der Dunkelziffer in Europa um ein Vielfaches größer als jene der künstlich mit Impfung Immunisierten. All dies führt dazu, dass eine wachsende Gruppe an Bürgern die Beschränkungen nur noch vorgeblich einhält, manche unterwandern die Maßnahmen gar: Feiern finden im Keller statt, FFP2-Schutzmasken werden für ein freieres Atmen "präpariert", bei der Kontaktnachverfolgung wird nur ein Minimum an Kontaktpersonen angegeben, was vielleicht die offizielle Kontaktnachverfolgung erleichtert, aber nicht besonders erfolgreich macht. Daher wäre "Zero-Covid" bestenfalls wenig Covid-19, aber viel Panik, massivste Einschränkungen und vor allem knallharte Überwachung und Kriminalisierung der Bevölkerung.

So würden erstens die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schäden noch stark steigen. Zweitens würden viele bezweifeln, dass der Staat ihnen angesichts des drohenden Schadenumfangs helfen kann. Drittens gibt es bereits natürlich und künstlich Immune, für die derartig massive Eingriffe nicht nur unsinnig, sondern völlig unverhältnismäßig sind. In der "Wiener Zeitung" und anderswo haben wir seit Anfang der Pandemie auf die Bedeutung der Zertifizierung der Immunen hingewiesen. Israels "Grüne Pässe" für mehr Freiheiten für Genesene und Geimpfte zeigen nun, dass das auch möglich ist.

Triage war immer ein Standard in der Medizin

Bei schleppender Impfkampagne und ohne Berücksichtigung der bereits natürlich Immunen dürfte das vorgebliche Ziel der vergangenen und bestehenden Politik, Triage im Gesundheitswesen zu vermeiden, vorerst noch ferner liegen. Mit dem Schreckgespenst der Triage drohen auch die "Zero-Covid"-Anhänger. Tatsächlich aber war Triage immer ein Standard, denn die verfügbaren Ressourcen sind immer knapp: Ärzte müssen bei Unfällen oft entscheiden, wer zuerst Hilfe und damit bessere Überlebenschancen erhält. Überall wird mit der Festlegung der Gesundheitsbudgets und der über die Krankenversicherung zu finanzierenden Leistungen ganz selbstverständlich über die Überlebenschancen vieler Patienten entschieden.

Dabei ist Triage nicht nur Standard in der Medizin, sondern war es auch in dieser Pandemie: Die Entscheidungen zur Zuteilung der knappen Impfungen sind Triage. Und die vielleicht größte Triage-Entscheidung sind Lockdowns selbst. Der Unterschied zur Triage auf Intensivstationen ist lediglich, dass dort explizit und gut sichtbar Triage betrieben werden müsste; bei einem europaweiten Lockdown, wie von "Zero-Covid" gefordert, geschähe sie implizit und weniger gut sichtbar. Viele medizinische Leistungen würden reduziert und verzögert erbracht, was längerfristig mit Todesfolgen verbunden ist. Psychische Belastungen von Kindern und Erwachsenen würden weiter steigen. Zugleich brächte ein breiter neuer Lockdown auch über seine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen Auswirkungen auf Tod und Leben.

Das Gegenargument, es gehe nicht nur um die Sterbefälle, sondern um die Langzeitschäden der Überlebenden, zieht nicht. Natürlich gibt es bei Covid-19 Langzeitschäden, so wie bei jeder ernsthaften Krankheit und den meisten Unfallarten, ganz besonders aber entstehen sie durch die Folgen eines Lockdowns. "Zero-Covid" brächte den tatsächlich Gefährdeten wenig, aber Wirtschaft und Gesellschaft riesige Schäden. Die Lösung ist und war immer Immunität - natürlich nach Genesung oder besser künstlich durch Impfung. Deshalb brauchen wir einen offenen, ernsthaften Diskurs darüber, wie Risikogruppen wirksamer geschützt und welche Freiheiten Geimpften und Genesenen gegeben werden sollen.