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Ein Blick zurück ohne Zorn und ein Ausblick auf Hoffnung

Von Manfried Welan

Gastkommentare

Ein persönlicher Erfahrungsbericht über 60 Jahre ÖVP-Mitgliedschaft.


Ich bin jetzt 83 Jahre alt, die vergangenen 60 davon bin ich Mitglied der ÖVP. Beide haben wir uns im Laufe dieser Jahrzehnte verändert. Die Partei mit ihrem großen Ö war für mich die Österreich-Partei schlechthin, die alle Bundesländer im lebendigen Föderalismus integrierte und zu einem vernünftigen Patriotismus motivierte. Mir gefiel auch ihr Selbstverständnis als soziale Integrationspartei.

Bald nachdem ich in die ÖVP eingetreten war, wurde für mich das Prinzip "Rechts stehen, links denken" maßgebend. Rechts, das war für mich das Eintreten für den Rechtsstaat, aber auch der Katholizismus. Links bedeutete für mich, marxistisch zu denken, ohne Marxist zu sein. Dazu gehörte für mich immer ein geschichtliches und gesellschaftliches Erfassen der Wirklichkeit. Meinen Studierenden habe ich später dazu das Schlagwort geliefert: "Sehen, was ist."

"Leben und leben lassen" - das gab mir mein Vater mit. Dazu gehört auch der Kompromiss. Wir müssen uns als Gesellschaftswesen ertragen und vertragen. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat von der kommunikativen Rationalität gesprochen und die Theorie des kommunikativen Handelns entworfen. Mein Vater machte mich früh darauf aufmerksam, dass man mit jedem Menschen reden können muss: "Durch’s Reden kommen d’ Leut z’samm!" So entstehen und bestehen Versprechen, Verträge, Sätze und Gesetze. Eine Einheit des Volkes gibt es ja nicht in der Wirklichkeit. Das Volk, das ist ein Bündel von unterschiedlichen Eigenschaften und Herkunften. Eine Einheit ist es nur in der Einheit der Rechtsordnung, das hat Hans Kelsen einst klar erkannt.

Rechts wurde nach und nach "rechter", autoritärer in der Bedeutung. Daher wurde "die Mitte" für mich richtig. Aber "Mitte stehen, links denken!" klingt nicht so schön. Daher wurde "Mitte und Maß" das Richtige und Wichtige und ist es geblieben. "Mitte und Maß" hatte ich auch von meinem Lehrer und Freund Rene Marcic, der mich auch zu meiner "Nation Österreich" in den von ihm geführten "Salzburger Nachrichten" motiviert hat. Von ihm habe ich den Vorsatz: "Du sollst über deinen Nächsten nicht herrschen." Einen weiteren, "Freude am Anderssein des anderen", habe ich vom Kulturhistoriker Friedrich Heer übernommen, und vom einstigen SPÖ-Klubchef Sepp Wille stammt: "Freiheit ist der Inbegriff menschlicher Kultur." Das "Prinzip Verantwortung", das nicht nur die Freiheit tragen, sondern darüber hinausgehen muss, verdanke ich dem Philosophen Hans Jonas.

Die eigenen Grundsätzenicht immer eingehalten

Ein ganz wichtiger Sager war für mich: "Global denken, lokal handeln!" In den frühen 1950er Jahren kam der Friedensaktivist Garry Davis, der sich "Weltbürger Nummer eins" nannte, nach Wien. Ich wollte auch so ein Weltbürger mit Nummer sein. In der Bildung bin ich für die Erziehung einer differenzierten Identität, vom Ort und von der Gemeinde, in der man aufgewachsen ist, über die Region, das Land, die Republik Österreich, Europa und die Europäische Union und schließlich zur UNO und zur Weltordnung.

Ich arbeitete an mehreren Parteiprogrammen mit. Im Salzburger Programm (1972) gefiel mir alles: Personalität, Partnerschaft, Partizipation, Patriotismus - meine Elemente mit P. Subsidiarität, Sozialgesinnung und Solidarität - meine Elemente mit S. Das umfassende Gliederungsprinzip, das für die kleinen und überschaubaren Einheiten Freiräume und Autonomie verlangt und als Gegenbewegung zur Zentralisierung und Konzentration wirken soll, ist für mich wichtig, weil damit Politik vom gesellschaftlichen Bereich ausgeht.

Wurden von der ÖVP immer alle Grundsätze eingehalten? Praktische Politik verlangt Realismus und Pragmatismus, manchmal Opportunismus. Da die ÖVP immer mitregiert hat, hat sie ihre eigenen Grundsätze nicht immer eingehalten. Für viele ist sie zu wenig christlich, für nicht so viele zu wenig liberal, zu wenig konservativ, für noch weniger zu wenig modern. Für viele war sie früher zu wenig durchschlagskräftig gegenüber der SPÖ und heute zu wenig kritisch gegenüber der FPÖ.

Schon länger bin ich der Überzeugung, dass das beste Programm das vom seinerzeitigen ÖVP-Chef Josef Riegler konzipierte ist. Im ökosozialen Denken und Handeln sind alle Prinzipien der ÖVP enthalten. Ihr Wesenskern ist das "magische Dreieck" von leistungsfähiger Marktwirtschaft, sozialer Fairness und Solidarität sowie ökologischer Verantwortung für die Zukunft. "Lasst den Markt die Umwelt schützen" - dieses Motto war neu und blieb ein Herzstück der ökosozialen Marktwirtschaft. Rieglers globales Programm gab meiner Parteigesinnung energischen Schub.

Die Neos - eine Weiterentwicklung der ÖVP

Die Verjüngung und Modernisierung der Partei durch Sebastian Kurz und die neue Farbe habe ich als Alter gerne erlebt, nachdem Wolfgang Schüssel schon einen gewissen Rechtsruck herbeigeführt hatte. Manche gingen bei ihm nicht mehr mit, so meine Freundin Eva Petrik: Die ehemalige Wiener Gemeinderätin und Landtagsabgeordnete verließ die ÖVP nach der Bildung der schwarz-blauen Koalition im Jahr 2000. Beim weiteren Rechtsruck traten dann merkwürdigerweise weniger aus der Partei aus, als ich gedacht hätte.

Die Neos als neue Partei waren eine Weiterentwicklung der ÖVP zu einer neuen Bürgerlichkeit. Sie scheinen mir aber abgehobener und distanzierter zu sein als die ÖVP-Gemeinschaft. Leider wurde von der Partei nicht versucht, die Neos wieder einzugemeinden. Aber es gelang Kurz, die FPÖ auszugemeinden und mit den Grünen zu koalieren. Da ich unter den Grünen viele Freunde hatte und habe, war ich voll mit dieser Koalition einverstanden. Aber manches "Neos" fehlt der ÖVP und damit meine ich vor allem den Bildungsbereich und den Rechtsstaat als Wert und Wirklichkeit.

Die Neue Volkspartei, die nicht mehr schwarz, sondern türkis ist, hat Kurz in mehreren Wahlen erfolgreich geführt, und viele sehen in ihm den geeigneten Mann, um auch in der EU eine besondere Bedeutung zu haben. Der Historiker Toni Judt sagte einmal, Österreich sei nicht mehr als ein kleines, stabiles, unbedeutendes Land in Europa. Verglichen mit anderen in der EU sind wir gar nicht so klein, und wir bringen zumindest im eigenen Bewusstsein auch immer unsere große Geschichte mit. Aber ein Postimperialismus wäre ein falsches Bewusstsein. Wir müssen uns in Acht nehmen, nicht die Österreicher zu werden, als die wir in den Dichtungen von Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz gezeichnet werden.

Die ÖVP hat Zukunft, weil sie eine gute Herkunft hat

Ich wurde mehrmals gefragt, wie weit Kurz gehen könne und ich ihn noch begleiten würde. Ich habe darauf nie geantwortet, weil ich - von einigen Einzelheiten abgesehen - durchaus meine Zustimmung geben konnte. Ich lasse mir eben mehr gefallen, auch wenn es mir weniger gefällt. Aber wo ist die Grenze? Als ich ihn kennenlernte, schien er mir arglos, offen und unbefangen, ungeniert und so jung! Heute kann ich ihn mit Ungeniertheit charakterisieren. Er hat eine besondere Resilienz. Er ist ein ausgezeichneter Redner, der sich nie verspricht, wenn er spricht. Die ÖVP hat Zukunft, weil sie eine gute Herkunft hat. Sie steht auf gutem Boden. Das große Ö, Patriotismus, Patria, Vaterland, Heimat . . . auf den Spuren der großen ÖVP-Politiker Leopold Figl, Julias Raab und Felix Hurdes weitergehen und im Sinne Alois Mocks und Erhard Buseks eine Europapartei mit Profil sein.

Diesen Boden gilt es zu hegen und zu pflegen: Familie, Eigentum, Lokale und Lokales, Gemeinde, Kirche, Religion, Heimat, Land, dort, wo man zuhause ist, sich wohlfühlt, spricht, wie einem der Schnabel gewachsen ist, die alten Kinder- und Volkslieder singt, eine Volksschule der Demokratie sein. Hier in der Nachbarschaft macht Bildung durch Ökologie Sinn. Heimatkunde war unser liebster Gegenstand in der Schule. Ihn muss es weiter geben. Auf dieser "Bodenkultur" gedeihen der demokratische Rechtsstaat und liberales Denken, das Leben-und-leben-lassen, Offenheit für das Neue und Andere, die Menschenrechte. In Paragraf 16 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB) von 1811 heißt es: "Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten." Das ist leider noch nicht in jeder Schul- und Gemeindestube zu lesen. Das Porträt des jeweiligen Bundespräsidenten alleine ist zu wenig.

Die Rechtsverfassung sollte der Realverfassung folgen

Mehr Wettbewerb und mehr Entdeckungsverfahren stünden der ÖVP wohl an. Denn sie neigt, für die Menge gesprochen, zum Strukturkonservativismus und begründet dies dann oft mit Wertekonservativismus. Wünschen würde ich mir eine neue Demokratisierung: etwa die Direktwahl der Landeshauptleute. Was sich in der Realverfassung schon längst durchgesetzt hat, sollte in der Rechtsverfassung nachvollzogen werden. Damit sollte aber auch eine Aufwertung der Parlamente vor sich gehen, insbesondere eine Aufwertung der Opposition. Während mehr direkte Demokratie wohl akzeptiert werden würde, ist das beim Wahlrecht für Ausländer nach fünf Jahren Wohnsitz, Arbeits- und Steuerleistung in Österreich leider noch immer anders; auch die Staatsbürgerschaft unter diesen Voraussetzungen sollte zur Diskussion gestellt werden. Die Frage eines Grundeinkommens für alle oder zumindest für bestimmte Gruppen wurde aus christlichsozialer Seite und innerhalb der ÖVP schon vor langem von Riegler angestoßen. Dazu gehört auch die innerbetriebliche Mitbestimmung, die seit 1975 nicht wirklich bewegt wurde.

Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Frieden. Die Formel des deutschen Politologen Dolf Sternberger ist und soll die einzige Lösung sein. "Republik Österreich" bedeutet "für den Frieden". Die Europäische Union ist ein Konstrukt, das es in dieser Form nirgends sonst gibt. Sie ist immer auf der Suche nach sich selbst, weil sie immerhin aus 27 Mitgliedstaaten besteht. Wir Europäer wissen nicht viel voneinander. Die Republik Österreich muss mehr als andere den Respekt vor den Rechtsregeln hochhalten, Vorbild sein. Eine aktivere Rolle Österreichs in der Welt sollte das Ziel der ÖVP werden.