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Wie viel Sicherheit wollen wir uns leisten?

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Corona ist ein guter Anlass, unsere gesamtgesellschaftliche Risikobereitschaft neu zu bewerten.


Als in Texas kürzlich ein längerer Blackout den ganzen Bundesstaat lahmlegte, mit teils desaströsen Folgen für die Bevölkerung, war für die meisten Medien in Europa schnell klar: typische Entgleisung einer ungezügelten Marktwirtschaft. Tatsächlich ist der Strommarkt in Texas extrem liberalisiert und nur wenig reguliert. Um das zu erreichen, hat sich der Südstaat sogar fast völlig vom restlichen US-Netz abgekoppelt, weil ansonsten höhere regulatorische Standards hätten akzeptiert werden müssen.

Das hat auf der einen Seite dazu geführt, dass die Versorgungssicherheit stark zurückgegangen ist, wie der Blackout ja drastisch gezeigt hat; und die am Markt gebildeten Strompreise sind - aufgrund einer extrem seltenen Kältewelle - kurzfristig astronomisch explodiert. Gleichzeitig müssen aber private Haushalte in Texas in normalen Zeiten drastisch weniger für Strom bezahlen als europäische: Der durchschnittliche deutsche Haushalt muss für eine Kilowattstunde dreimal so viel berappen wie der texanische, der österreichische noch immer doppelt so viel. Ähnlich, wenn auch nicht so extrem, ist es in großen Teilen der USA:

Deutlich niedrigeren Preisen steht deutlich geringere Versorgungssicherheit gegenüber. In Europa ist es meist genau umgekehrt: hohe Preise, hohe Sicherheit. Hier spiegeln sich letztlich unterschiedliche Präferenzen der Verbraucher wider: Während die meisten Amerikaner es nicht sonderlich tragisch finden, ab und an einmal für eine Stunde keinen Strom zu haben, löst dergleichen in der Alten Welt gleich Panikattacken aus. Eine Rekalibrierung in der spannenden Frage, wie viel Risiko zu akzeptieren ist, um die Kosten möglichst niedrig zu halten, wird nach Corona auch in Europa und auch in ganz anderen Bereichen notwendig oder jedenfalls wünschenswert sein. Dass Europa in vielen systemrelevanten Bereichen, wie der Produktion von Medikamenten oder medizinischer Schutzausrüstung, aber auch in vielen anderen Segmenten der Güterproduktion nicht mehr autonom ist, weil nahezu alles nach China oder Indien ausgelagert wurde, dürfte sich ja mittlerweile herumgesprochen haben. Noch nicht klar ist freilich, welche Schlüsse wir daraus ziehen. Denn natürlich kann der Staat erzwingen, dass bestimmte strategisch wichtige Produktionen in Europa bleiben, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen oder überhaupt erst herzustellen. Gleiches gilt natürlich sinngemäß auch für die Frage, wie viele Intensivbetten vorgehalten werden.

Das ist aber zwingend mit teils erheblichen Zusatzkosten verbunden. Wenn ein brauchbares Hemd aus Vietnam hier für 10 Euro zu haben ist, ein im Waldviertel gefertigtes aber leicht das Zehnfache oder mehr kostet, dann zeigt sich, was das bedeutet. Es ist wie bei einem Schiff: Je mehr Schotten im Rumpf sind, um sicherer, aber umso weniger Fracht kann transportiert werden, umso teurer wird die Passage. Wer als Politiker mehr Autonomie und Versorgungssicherheit für Europa fordert, muss klar dazusagen, dass dies den Wohlstand in Europa senkt. Das ist gerade in Zeiten Corona-bedingt enormer Arbeitslosigkeit keine triviale Entscheidung. Aber das eine ist ohne das andere nicht möglich.