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Die Macht der Pseudowelten

Von Andreas Kirschhofer-Bozenhardt

Gastkommentare
Andreas Kirschhofer-Bozenhardt war Journalist in Linz, ehe er 1964 in die empirische Sozialforschung wechselte. Er war Mitarbeiter am Institut für Demoskopie Allensbach und zählte dort zum Führungskreis um Professor Elisabeth Noelle-Neumann. Ab 1972 baute er das Institut für Markt- und Sozialanalysen (Imas) in Linz auf.
© privat

Die Demokratie verhindert in aller Regel physische Vernichtung des politischen Gegners. Einen Schutz vor Hassbildern mitsamt deren schlimmen Konsequenzen bietet sie allerdings nicht.


Wieso schüttet ein Burgenländer Pfeffer über den Fernseher? Die Antwort: Damit das Bild schärfer wird. Wer hätte nicht schon über solche Witze geschmunzelt, sofern er nicht selber ein Burgenländer (oder auch ein Ostfriese) ist, denn sie sind ja die unfreiwilligen Lieferanten des Humors. Natürlich haben die Bewohner der besagten Regionen in Wirklichkeit keinen niedrigeren IQ als die übrige Bevölkerung. Ihre Einfalt ist nichts anderes als ein gängiges Vorurteil.

Fixe Vorstellungen von unserer sozialen Umwelt sind, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, unsere ständigen Begleiter. Einer der Urväter der US-Kommunikationsforschung, Walter Lippmann, sprach bereits 1922 von "pictures in our heads", die uns eine subjektiv empfundene Wirklichkeit vorgaukeln. Stereotype Bilder sind Befehlsgeber unseres Bewusstseins. Sie steuern insgeheim unsere Bewertung von Nationen, Klassen, Menschen, Unternehmen und selbstverständlich auch Parteien samt Anhängerschaften.

Die Durchsetzungskraft der fiktiven Bilder erklärt sich durch den Nimbus des Absoluten, gemäß der Überzeugung: "Ja, so und nicht anders ist es." Was dabei unbemerkt mitschwingt, ist die gefährliche Neigung, komplexe Vorgänge auf einfache, griffige, scheinbar logische Formeln zu reduzieren. Stereotypen sind Simplifikationen. Auch wenn es so manchem Stereotyp an Beweiskraft fehlt, muss die Politik mit dieser Pseudorealität fertig werden. Fixe Vorstellungen prägen das Wählerbewusstsein stärker als Parteiprogramme. Brisante Auslöser für sehr unterschiedliche politische Reaktionen sind Signalbegriffe wie "Populisten", "Multikulti", "Mainstream", "christliches Abendland" "Gutmenschen" etc.

Dämonisierung und moralische Erniedrigung des Gegners

Für die Punzierung von Nationen ließen sich viele Beispiele anführen: etwa "der Westen" (als gedankliches Aggregat von Hochzivilisation und Wohlstand), "geizige Schotten" oder "Piefke" (als lange Zeit bei uns gängige Kennzeichnung lautstarker Preußen). Umgekehrt trug das Bild vom "Ösi" im deutschen Norden die weichen Konturen von wein- und walzerseligen Schlemmern und Schwelgern, die es ansonsten mit den Dingen nicht ganz genau nehmen. Die Engländer galten bis in die jüngste Vergangenheit hinein als hochmütige, schrullige Sonderlinge. Mit den Italienern verbindet sich spätestens seit Johann Wolfgang von Goethes Reisebericht die Vorstellung von oberflächlichem Lebensgenuss. An den Schweizern haftet hingegen das Imago einer bis zur Langeweile gesteigerten Redlichkeit. Was die USA betrifft, so zaubern der Anblick einer Coca-Cola-Flasche, der Sound eines Spirituals oder Begriffe wie Silicon Valley und Hollywood Bilder in unsere Köpfe, in denen sich die Allegorien von Weite, Freiheit, Aufstieg oder aber von Sklaverei, Überfluss und Macht widerspiegeln.

Zur Tragöde wurden stereotype Vorstellungen in der Geschichte dann, wenn sie zur Dämonisierung und moralischen Erniedrigung des politischen, sozialen oder religiösen Gegners führten, am krassesten bei der Judenverfolgung im vorigen Jahrhundert. Der NS-Staat schuf für die systematische Pflege des Juden-Zerrbildes sogar eine eigens dafür bestimmte Wochenzeitung, den "Stürmer".

Es gehört zu den Segnungen der Demokratie, dass sie die physische Vernichtung des politischen Gegners in aller Regel verhindert. Einen Schutz vor Hassbildern, die zu Terrorakten wie der Köpfung von Franzosen in Paris und Nizza durch Islamisten oder dem kürzlichen Amoklauf in Wien mit den vielen Toten und Schwerverletzten führten, bietet sie allerdings nicht. Auch unsere parteipolitische Szene ist von mentalen Aggressionen begleitet, die auf fixen Vorstellungen beruhen. Das bekommen vor allem die Anhänger patriotischer Law-and-Order-Parteien zu spüren, denen ihre Widersacher automatisch unterstellen, radikal, rassistisch und antidemokratisch zu sein. Gängig ist auch die Neigung junger Zeitgeschichtler, die Kriegsgeneration pauschal als Mörder- und Mitläuferkollektiv abzustempeln.

Divergierende Denkmustervon Medien und Allgemeinheit

Am stärksten kann sich die Psychodynamik des Vorurteils über die Schiene der Medien entfalten. Die von den Medien transportierten Denkmuster decken sich jedoch häufig nicht mit denen der Allgemeinheit. Die Bevölkerung blättert oft in ganz anderen politischen Bilderbüchern. Am geringsten ist die Übereinstimmung in den Bereichen der Flüchtlingspolitik, der öffentlichen Sicherheit sowie bei Fragen, die mit der nationalen Identität zu tun haben. In Stein gemeißelt sind die Gegensätze: "Der Islam gehört zu uns" - "Nein, gehört nicht zu uns!"

Die Vorherrschaft des lautstarken Medienkanons bewirkt in großen Teilen der Bevölkerung politischen Stress - viele haben das Gefühl, bestimmte Ansichten nicht frei vertreten zu dürfen, weil sie einem moralischen Tabu unterliegen. Dies wiederum weckt Isolationsängste. Der große Aufklärer John Locke schrieb 1680 in seinem "Law of Opinion": "Nicht einer unter 10.000 ist so unbeugsam und stumpf, dass er den dauerhaften Widerspruch anderer Menschen ertragen würde."

Das Harmoniebedürfnis der Bürger ist in unseren Tagen jedenfalls empfindlich gestört. Politische Gespräche sind begleitet von der bangen Frage, ob denn die eigene Meinung salonfähig ist. Diejenigen, die das Schweigen gebieten, fühlen sich umgekehrt als Schutzengel von Demokratie und Zivilgesellschaft. In Gang geraten ist ein Höllentanz von scheinbar unversöhnlichen Denkmustern in allzu vielen Problembezirken.

Das war nicht immer so. Während der Besatzungszeit und im Kalten Krieg hatten die Österreicher noch die Gewissheit, eine Gemeinschaft zu sein und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Damit ist es vorbei. An die Stelle des Zwists zwischen den Großmächten trat ein kalter Krieg zwischen einzelnen Segmenten der Gesellschaft. Kaum zuvor gab es bei uns und in Europa so viele einander verfeindet gegenüberstehende Verdrussbilder wie jetzt, ohne dass darin ein Links-Rechts- oder Oben-Unten-Schema erkennbar wäre. Die in der Arena unserer Zeit gegeneinander kämpfenden gedanklichen Dämonen lassen sich politischen Parteien nicht mehr zuordnen. Sie markieren jedoch den Zerfall einer in Agonie liegenden Welt.

Wie geht es weiter? Zu erwarten ist kein Verflüchtigen, sondern eher eine Vertiefung der Gegensätze. Besonders gefährlich im breiten Spektrum der Brandherde sind die Folgen der misslungenen Integration von Zuwanderern in die autochthonen Kulturen, die wirtschaftlichen und sozialen Abstiegsängste, die Umbrüche in der Arbeitswelt, die Konsequenzen des Klimawandels und jegliche Nachwehen der Pandemie. Dazu gesellen sich die Folgen der beginnenden Vergreisung unserer Gesellschaft. Der Soziologe Meinhard Miegel hat es vorausgeahnt, als er schrieb: "In einer stark alternden, multikulturellen Bevölkerung ändern sich nicht nur einige, sondern alle Aspekte des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Eine solche Bevölkerung sieht, empfindet und handelt anders als die heutige." Und sie wird andere Pseudowelten in ihren Köpfen haben.