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Kurz zwischen Söder und Orban

Von Gerfried Sperl

Gastkommentare

Ungarns Premier will jetzt die Führung in der rechtspopulistischen Parteienfamilie übernehmen.


Der bayrische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder hat kurz vor dem Ausscheiden der ungarischen Regierungspartei Fidesz aus der EVP-
Fraktion festgestellt, die Partei Viktor Orbans habe sich "endgültig von der Europäischen Volkspartei und ihren christdemokratischen Werten verabschiedet". Das ist ein klarer Schritt in die Mitte einer Parteienfamilie, wo die CSU jahrzehntelang die stärkste Kraft der rechten Flanke war.

Orban ließ seinen Kanzleichef Gergely Gulyas mit einer Erinnerung antworten: Die ungarischen "Christdemokraten" stünden zum Credo des 1988 verstorbenen bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, wonach es "rechts von der CSU nur noch die Wand" geben könne. Nur die Wand also auch rechts von Fidesz. Vor dieser Wand fädeln sich weitere Rechte auf: die polnische PiS mit Jarosaw Kaczynski an der Spitze und die Lega Nord unter Matteo Salvini.

Hintergrund ist die Auseinandersetzung über EU-Grundwerte, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung als Fundament der liberalen westlichen Demokratie. Der rechtsnationale Orban steht wegen seines Konzepts einer "illiberalen" Demokratie in der Kritik der westeuropäischen Christdemokraten. Seit 2015 ging es um Flüchtlingspolitik und die Frage: "Was heißt Familie im internationalen Kontext?" Es wurde um die Unabhängigkeit der Justiz gestritten sowie nicht zuletzt um Medienfragen und die Eigentümerschaft von Verlagshäusern. Zuletzt wurde in Budapest der letzte unabhängige Radiosender zum Schweigen gebracht.

Worauf Gulyas nicht einging: Schon zu Strauß’ Zeiten war die gesellschaftspolitische Realität in Bayern wesentlich fortgeschrittener als jene im heutigen Ungarn. Es gab eine starke außerparlamentarische Opposition mit einer Anti-Atombewegung, die Strauß nur mit Polizeigewalt in Schach halten konnte. Medienfreiheit und die Freiheit der Justiz wurden bundesstaatlich garantiert. Selbst Strauß hatte diese Freiheiten im Freistaat niemals gefährden können.

Nicht die aufklärerischen Traditionen im Gefolge der Französischen Revolution und die Trennung zwischen Kirche und Staat spielen in Ungarn und in Polen wieder die Hauptrolle, sondern die Muster der kommunistischen Vergangenheit, als Partei (heute die Kirche) und Staat (heute die Mehrheitsparteien) nahezu eins waren und unter gleicher Führung standen. Es handelt sich de facto um die Suspendierung der Gewaltenteilung und um einen Missbrauch des Wahlrechts.

Der zweischneidige EU-Kurs des österreichischen Kanzlers

Um die ganze Macht uneingeschränkt ausüben zu können, möchten die Fast-Diktatoren die Gerichtsbarkeit stärker an den Glauben binden, Institutionen wie die Ehe ihrer nur zivilen Verbindlichkeit entheben und durch kirchlich sanktionierte Verträge ersetzen. Da all dies das Leben der Menschen stärker prägt als die Politik, vertieft sich der Graben zwischen Westeuropa und Ost-/Mitteleuropa.

Seit Beginn der Kanzlerschaft von Sebastian Kurz verfolgt die österreichische Bundesregierung einen zweischneidigen EU-Kurs: international loyal zu Brüssel, in Grundfragen eher zu den Visegrad-Staaten neigend. In seinem ersten Kanzlerjahr war Kurz ein politischer Popstar, in den Medien herumgereicht, bis auf Angela Merkel überall herzlich begrüßt. Jeder und vor allem jede wollte ihm in die Augen schauen.

Diese Stimmung ist mittlerweile verflogen, wenngleich der österreichische Regierungschef keine Probleme hat, sich auf internationaler Ebene Gehör zu verschaffen. Also laviert er zwischen West- und Osteuropa. Die Nähe zu den Visegrad-Staaten versucht er mit Bereichskoalitionen auszugleichen - zuletzt mit Dänemark, mit dessen sozialdemokratischer Regierungschefin er nach Israel in Sachen Pandemiebekämpfung gereist ist.

Es gibt jedoch einen zweiten Player in der österreichischen Gesellschafts- und Rechtspolitik: die Justiz und an deren Spitze den Verfassungsgerichtshof. Vor zwanzig Jahren versuchte Jörg Haider, mit heftigen Angriffen dessen Position zu schwächen und die Justiz samt Verfassungsrichtern - wie es heute in Polen und in Ungarn geschieht - mit der Regierung gleichzuschalten. Das ist damals durch die innerparteilichen Konflikte in der FPÖ (Stichworte: Knittelfeld und BZÖ) gescheitert.

Nach vielen Jahren der Ruhe gibt es wieder Sticheleien - sogar aus den Reihen der ÖVP, offenbar um jenes Potenzial in der FPÖ anzusprechen, das Kurz schon bei der jüngsten Nationalratswahl lukriert hat. Es geht um Systemskeptiker, die (noch) nicht bereit sind, den immer radikaleren Ansagen von FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl zu folgen. Ein gefährliches Spiel der Freiheitlichen.

Der Drang Orbans an die Spitze einer neuen, sehr starken Rechtsfraktion im EU-Parlament würde freilich für die ÖVP einiges klären. Sie könnte bilateral gut Freund mit Orban sein, aber in der Europäischen Volkspartei gäbe es wegen Söders eindeutig liberaler Haltung kein Verständnis für Ausflüge Richtung Visegrad-Gruppe. Otmar Karas, der als Einziger in der ÖVP-Fraktion im EU-Parlament für den Ausschluss der Orban-Partei aus der EVP gestimmt hat, wäre wieder gestärkt.

Zum Autor~Gerfried Sperlwar von 1992 bis 2007 Chefredakteur der Tageszeitung "Standard". Er gibt die Booklet-Reihe "Phoenix" heraus (E-Mail: gerfried.sperl@gmx.at).