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Alles, was noch Recht werden muss

Von Helmut Pietzka

Gastkommentare

Der zukünftige Bestand der Demokratie kann nur dann gesichert werden, wenn die Bürgern sie aktiv mittragen.


Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs in Sachen Flächenwidmung in der Gemeinde Ludesch (Vorarlberg) vom 6. Oktober 2020 hat Klarheit gebracht. Nach bestehendem Verfassungsrecht können die Bürger eine Entscheidung der von ihnen gewählten Abgeordneten, in diesem Fall der Gemeinderäte, weder ändern noch aufheben. Eine auf gesetzlicher Grundlage zustande gekommene Volksabstimmung ist verfassungswidrig, wenn sie auf die Korrektur eines von den gewählten Abgeordneten beschlossenen Gesetzes abzielt. Gerechtfertigter Widerspruch in Sachentscheidungen ist unmöglich.

Das ist die Hauptregel der repräsentativen Demokratie. Sie gilt für alle politischen Ebenen, vom Gemeinderat bis zum EU-Parlament. Diese Verfassungsregel wurde aber vom Volk nie genehmigt, auch nicht nachträglich nach 1945. War diese Entscheidung reine Interpretation geschriebenen Verfassungsrechts oder hat sie neues Recht geschaffen? War es eine Kompetenzüberschreitung des Verfassungsgerichtshofs? Es steht nämlich nirgendwo, dass ausschließlich die gewählten Gremien entscheidungsberechtigt sind, die eigentlichen Rechtsinhaber aber nicht.

Das Verfassungsrecht kann kein Geschenk einer Führungsgruppe sein, sondern sollte immer den Bürgern zur Begutachtung und Genehmigung vorgelegt werden. Zur Zeit der Schaffung unserer Verfassung waren bedeutende Rechtslehrer der Auffassung, dass der gewöhnliche Bürger nicht als Individuum erkennbar ist, sondern nur als Mitglied einer Gruppe.

Die politische Praxis und die Sonderstellung der Parteien

Seit mehr als 150 Jahre vollzieht sich das politische Geschehen unter der Annahme, dass der gewöhnliche Bürger seine Meinung zu politischen Fragen nicht individuell ausdrückt, sondern ausschließlich durch seine Zugehörigkeit zu einer Partei bestimmt. Da war Mitbestimmung kein Thema. Heute ist es anders. Die Anhänger des positiven Rechts finden es in Ordnung, wenn der Mächtige auch regiert. Sie sagen, er hätte sich ja bereits gegen viele Konkurrenten durchgesetzt, um seine Macht zu erlangen. Moral wird hier in den Hintergrund gedrängt. Wenn der Mächtige manchmal brutal und korrupt zur Erlangung seiner Machtstellung vorgegangen ist, dann sagt er nachher, die Benachteiligten hätten eben durch Anwendung des bestehenden Rechts einschreiten sollen. Manchmal ist aber gerade gegen solche Rechtsbrüche keine einklagbare Rechtsvorschrift vorhanden gewesen, denn die Mächtigen haben dafür vorgesorgt, dass es keine gibt.

Die Parteien haben sich durch das Parteiengesetz ihre Sonderstellung abgesichert. Sie sind zu Unternehmen geworden und sichern ihren Bestand durch großzügige Förderungen aus Steuergeld und Spenden ab. Im Jahr 2019 gab es in Österreich steuerliche Parteienförderungen in Höhe von 219 Millionen Euro für Bundes- und Landesparteien zusammen. Für Informationsanzeigen gaben die Koalitionsparteien (ÖVP und Grüne) durch die von ihnen geführten Ministerien im Jahr 2019 satte 79 Millionen Euro aus. Da hätte es bessere und billigere Möglichkeiten gegeben.

Heute wollen sich die Parteien und ihre Führungen verstärkt aus ihrer Beauftragtenstellung befreien und sich dem Volk als unabhängiges, zur Steuerung des Volkes eigenberechtigtes Subsystem darstellen. Wird das moderne Regieren eine Abart des 1919 erledigten Gottesgnadentums? Sind heute Mitbestimmungsrechte verfügbar? Nein. Volksbegehren und Volksbefragung sind keine Mitbestimmungsrechte, sie bewirken gar nichts, wenn die gewählten Abgeordneten nicht wollen.

Auch die Europäische Bürgerinitiative ist ein zahnloser Löwe. Eine Volksabstimmung ist nur dann verfassungskonform, wenn sie von gewählten Abgeordneten eingeleitet wird. Die Wahrscheinlichkeit ist also gering, dass eine Volksabstimmung abgehalten wird, deren Ziel die Aufhebung eines von den gewählten Abgeordneten beschlossenen Gesetzes oder die Neuschaffung eines Gesetzes ist, das gegen die Auffassung des Mehrheitsblocks im Parlament steht.

Die Bürger und diestaatlichen Institutionen

Was machen die Bürger heute? Nichts. Es war nicht nur die positiv-rechtlich abgesicherte Verweigerung der Bürgermitsprache, sondern auch die Trägheit der Bürger. Sie haben sich daran gewöhnt, dass sie nichts zu reden haben. Viele sind sich dieses Zustands nicht bewusst oder finden ihn annehmbar. Sie müssen sich vor allem mit der Sicherung und Verbesserung ihres Lebensunterhalts beschäftigen. Aber diese Leute müssen bald beginnen, sich auch um Politik zu kümmern, wollen sie nicht nur die Kosten der politischen Maßnahmen tragen. Ohne Mitentscheidungsmöglichkeit wenden sich viele Bürger an Populisten und andere laute Randgruppen in der Hoffnung, dass ihre Anliegen dort wirklich gehört und verwirklicht werden.

Der zukünftige Bestand der Demokratie in den OECD-Ländern kann aber nur dann gesichert werden, wenn sie von den Bürgern aktiv mitgetragen wird. Als Begründung brauchen wir nicht auf den Rousseau’schen Gesellschaftsvertrag zurückzugreifen. Man müsste den Bürgern nur Rechtsgleichheit, also das Mitbestimmungsrecht und die Mitbestimmungsmacht geben, wie sie in der UN-Erklärung der Menschenrechte 1948, Artikel 1 und Artikel 21, beschrieben sind und ihnen bisher vorenthalten wurden. Rechtsgleichheit ist weitaus mehr als Gleichheit vor dem Recht. Das Wahlrecht allein bringt keine Rechtsgleichheit. Erst die Möglichkeit der Ausübung der Mitbestimmungsrechte durch die Bürger schafft eine stabile Verbindung der Einzelnen mit der Gemeinschaft und ihren Institutionen. Ansonsten bleiben diese staatlichen Institutionen ein über die Einzelnen gestülptes Gebilde.

Die Systemrelevanz der Mitbestimmungsrechte

Die Mitbestimmungsrechte sind zweiteilig, der allgemeine Teil wird bei Wahlen abgetreten, der nur persönlich ausübbare Teil bleibt immer beim Bürger. Der kann auf die Ausübung für eine Gesetzgebungsperiode verzichten. Mitbestimmungsrechte bestehen aus Veto- und Gesetzesinitiativreferenden, Recht auf Information ohne Amtsgeheimnis, Recht auf Bildung von geförderten Beratungszentren der Bürger, Ergänzungen zum Wahlrecht wie das Recht auf Beigabe einer Forderung in das offizielle Wahldokument. Jeder Bürger muss das Mitbestimmungsrecht haben, unabhängig von seiner schulischen Bildung.

Das in der Verfassung noch nicht enthaltene Mitbestimmungsrecht der Bürger ist nicht nur das wichtigste Recht der einzelnen Bürger zur Mitgestaltung der Gemeinschaft, sondern die Gesamtheit dieses jedem wahlberechtigten Bürger zukommenden Rechts bildet bei Übertragung auf die gewählten Vertreter auch die einzige, aber noch nicht anerkannte Rechtsgrundlage für alle staatlichen Institutionen und deren Handlungen. Der Staat und seine Institutionen stehen also heute in der Luft.

Alles Recht zum Handeln durch den Staat stammt von den Bürgern. Das Gewaltmonopol und das Recht zur Einhebung von Steuern durch die staatlichen Institutionen stammen von den Bürgern ebenso wie die Souveränität des Staates. Die Staatssouveränität ergibt sich aus der an den Staat abgetretenen Souveränitäten der Bürger. Nur die Gesamtheit der Bürger kann entscheiden, ob ein Teil ihrer eigenen, aber übertragenen Souveränität an eine übernationale Einrichtung abgetreten werden soll.

Nur von ihnen geht die Forderung aus, dass ihre Gemeinschaft unversehrt bleiben muss und von außen nicht angegriffen werden darf. Sie verteidigen jede von außen kommende Bedrohung der Unversehrtheit ihres Territoriums. Die Wahlbürger der Gemeinschaft allein können aber genehmigen, dass ein Teil ihres Gebietes aus der Gemeinschaft ausscheidet, sich selbständig macht oder sich in ein anderes Gebiet eingliedert.

Durch den Einbau der Mitbestimmungsrechte in die Verfassung würde ein Missstand im Staatsrecht behoben. Denn die bei Wahlen angenommene Bestätigung der staatlichen Institutionen und ihrer Einrichtungen, auch jener der Länder und Gemeinden, durch die Gesamtheit der Bürger ist falsch. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Wahlen, wie sie heute geschehen, und Wahlen, die nach Aufnahme des Mitbestimmungsrechts in die Verfassung abgehalten würden. Jetzt wird eine Liste gewählt, und das war es für fünf Jahre. Im anderen Fall gehen die Parteileitungen viel vorsichtiger vor, weil von den Bürgern vieles geändert werden kann, auch betreffend Institutionen.

Wohin soll sich unsere Demokratie entwickeln?

Die Bürger könnten ihre Mitbestimmung vor allem bei der Begutachtung von Gesetzen und Mehrjahresplänen einüben, auch bei der Festlegung gesellschaftlicher Ziele und bei der Formulierung der Regeln, nach denen politische Entscheidungen erfolgen sollen. Da gute Politik nach allgemein verständlichen Regeln entscheidet, ist es wichtig, dass die Bürger bei der Festlegung der Regeln mitbestimmen. Im Gegensatz zur regelbasierten Entscheidung ermöglicht eine politische Entscheidung auch die Auswahl von nachteiligen, nicht verständlichen Optionen. Das dient hauptsächlich dem Machterhalt der dominierenden Partei.

Ein Entwicklungsziel für unsere Demokratie ist also eine vernünftig organisierte Machtteilung zwischen den Bürgern und den gewählten Politikern, die duale Rechtssetzung. In Kalifornien gibt es sie schon. In diesem Modell werden die Bürger als oberste Rechtssetzungs- und Kontrollinstanz in das staatliche Machtgefüge eingebaut. Die gewählten Politiker haben die Stellung der kompetenten Gestalter mit Vorschlagsrecht. Erst nach Fristablauf der für alle Bürger offenen und erweiterten Gesetzesbegutachtung kann die parlamentarische Behandlung der Vorschläge beginnen. In der dualen Rechtsetzung wird die Einflussnahme der Lobbyisten eingeschränkt.

Dieser Weg ist noch weit, denn eine Totalreform der Verfassung wäre dafür notwendig. Aber in Zukunft wird jene Partei dominieren, die das Mitbestimmungsrecht der Bürger verwirklicht.