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Sittenbild einer Republik

Von Beate Meinl-Reisinger

Gastkommentare
Beate Meinl-Reisinger ist Klubobfrau der Neos.

Wir brauchen einen Neustart der politischen Kultur in Österreich.


Die bekannt gewordenen Chat-Protokolle zeichnen ein Sittenbild der neuen Volkspartei, das in zu vielen Kreisen lediglich auf Schulterzucken stößt. In beinahe so deutlichem Ausmaß und genauso unleugbar wie das Ibiza-Video legen die leitenden Akteure der neuen Volkspartei dar, wie alt ihr Stil in der Dimension des Postenschachers ist. Das Sittenbild, das über Jahrzehnte von ÖVP und SPÖ entwickelt und von der FPÖ fleißig übernommen wurde, entspricht einer kalten Machtpolitik und dem Prinzip, die eigenen Interessen und jene der engsten Vertrauten im Zweifelsfall eindeutig über jenen der Republik anzusiedeln.

Aber einige Reaktionen auf die Veröffentlichung der erbärmlichen Versessenheit auf Versorgungsposten und der Demütigung von Kritikern sind ebenfalls bezeichnend. Die moralische Verwerflichkeit der Chat-Inhalte wird von kaum jemandem in Frage gestellt. Gleichzeitig werden die Verfehlungen aber scheinbar damit gerechtfertigt, dass man ja nichts anderes gewohnt sei. Dieses Verhalten habe es schon immer gegeben, und man könne es überall beobachten. Die Erklärung, dass "es eh alle so machen", scheint für viele eine ausreichende Rechtfertigung zu sein.

Dass Österreich ein Problem mit einer weit verbreiteten Kultur der Korruption auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen hat, ist kein Geheimnis. Diese Kultur beginnt bei Covid-Impfungen, die in den Oberarmen von Bürgermeisterfamilienmitgliedern statt jenen von Risikogruppen landen, und endet beim Öbag-Chef. Jene Kultur, die in führenden Regierungskreisen seit Jahrzehnten gelebt wird, strahlt mit unheilvoller Vorbildwirkung auf die anderen gesellschaftlichen Ebenen des Landes. Dass eine breite Prävalenz eines verwerflichen Verhaltens dieses aber keineswegs rechtfertigt, sollte man jedoch nicht weiter ausführen müssen.

Wir sollten an uns selbst einen höheren Anspruch stellen, auf allen Ebenen der Politik und der Gesellschaft. Wenn wir unser Handeln ausschließlich daran festmachen, wie man die Dinge "eben schon immer gemacht hat", werden wir auch keine Verbesserungen erwarten dürfen. Wir brauchen einen Neustart der politischen Kultur in Österreich. Wir sollten uns den kompromisslosen Anspruch stellen, dass persönliche Bereicherung auf Kosten der Republik ein inakzeptables Verhalten darstellt. Die Akzeptanz dieser einfachen Forderung an führende Regierungspolitiker stellt in vielen Ländern ein Mindestmaß an Anstand dar, scheint jedoch in Österreich oftmals ein unerreichbares Ideal zu sein.

Nur ein rechtlich abgesichertes politisches System der lückenlosen Transparenz und tiefgreifenden Kontrolle wird es uns ermöglichen, die Diskussionen über korrupten Postenschacher endgültig hinter uns zu lassen und uns den wahren Zukunftsthemen widmen zu können.

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