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Antisemitismus und Erinnerungskultur

Von Regina Polak

Gastkommentare
Regina Polak ist Institutsleiterin und Assoziierte Professorin am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Buchtipp: Christian Friesl/Julian Aichholzer/Sanja Hajdinjak/Sylvia Kritzinger (Hg.): "Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018" (Czernin Verlag 2019).
© Joseph Krpelan

Die aktuellen Entwicklungen müssen offensiv benannt und bekämpft werden.


Je intensiver ich mich mit den mörderischen Folgen des Antisemitismus auseinandersetze, umso mehr erschrecke ich: Wie kann es sein, dass mehr als 75 Jahre nach der Schoah Jüdinnen und Juden weltweit und in Europa wieder in steigendem Maß von Antisemitismus bedroht sind?

Antisemitische Stereotype gehören nach wie vor zum kulturellen Gedächtnis und werden über Familiennarrative weitergegeben. Psychohistorische Forschung belegt, dass diese Erbschaften von der politischen und wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Zeit, etwa in Österreich und Deutschland, vielfach unberührt bleiben - insbesondere, wenn es keine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der eigenen Vorfahren gibt. In von Migration geprägten Gesellschaften wird überdies sichtbar, dass Antisemitismus eine global vielgestaltige Realität ist, die sich dann zum Beispiel im israelbezogenen Antisemitismus von Zuwanderern aus dem Nahen Osten zeigt. Daneben ist vor allem rechtsextremer Antisemitismus eine große Gefahr. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den zahlreichen, wandelbaren Formen des Antisemitismus, wie sie etwa die Antisemitismusstudie 2021 des österreichischen Parlaments dokumentiert, ist deshalb unabdingbar.

Zygmunt Bauman und Vilém Flusser hielten die Schoah nicht für eine monströse Verirrung oder einen barbarischen Rückschritt der Geschichte, sondern für ein Produkt westlicher Kultur und Zivilisation. Fortschrittsutopien, die mittels Wissenschaft und Technik Menschen und Gesellschaften zum Objekt einheitlicher Perfektion machen und "Andersartiges" ausmerzen wollen, stehen am Beginn der Schoah. Dieser Optimierungswahn ist nach 1945 nicht verschwunden. Menschenverachtende Ideologien wie der Antisemitismus bleiben ohne kritische Reflexion dieser zivilisatorischen Grundlagen eine beständige Bedrohung und können in Krisenzeiten jederzeit wieder reaktiviert werden.

Der Antisemitismus ist ein Kampf gegen jenes Ethos, das für die Würde jedes einzelnen Menschen und die fundamentale Gleichheit aller Menschen in ihrer Verschiedenheit einsteht. Steigender Antisemitismus ist daher immer auch ein Alarmsignal für die Bedrohung anderer Minderheiten und des Humanum als solchem. Aus theologischer Sicht wird damit der biblisch bezeugte Gott selbst bekämpft, an den zu glauben nur in Verbindung mit diesem Ethos authentisch ist. Papst Johannes Paul II. bezeichnete den Antisemitismus daher als "Sünde gegen Gott und die Menschheit".

Diese wenigen Spuren belegen die Notwendigkeit, die reichhaltige Antisemitismusforschung interdisziplinär zu vernetzen und deren Befunde praxisnahe und auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu verbreiten - ein Anliegen, das auch die "Nationale Strategie gegen Antisemitismus" der österreichischen Bundesregierung formuliert. Das Sir Peter Ustinov Institut hat deshalb in Kooperation mit Einrichtungen der Universität Wien eine Veranstaltungsreihe zum Thema "Kontinuität und Aktualität des Antisemitismus. Eine österreichische und globale Herausforderung" initiiert. Die aktuellen Entwicklungen müssen offensiv benannt und bekämpft werden.

"Erfahrungen und Herausforderungen in der österreichischen Erinnerungskultur"
28. April 2021, 16 bis 18 Uhr
Livestream: https://youtu.be/v5MLl6YkdSs

Wissenschaftliche Konferenz: "Kontinuität und Aktualität des Antisemitismus. Eine österreichische und globale Herausforderung"
27./28. Mai 2021
Skylounge der Universität Wien inklusive Online-Stream
Details finden Sie hier.