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Fairness in der Pandemie

Von Patrick Scherhaufer

Gastkommentare

Bei der Akzeptanz der Corona-Maßnahmen spielt auch die Frage nach Gerechtigkeit eine Rolle.


Es herrscht so etwas wie Aufbruchstimmung in Österreich. Die Impfung scheint zumindest gegen die meisten Mutationen des Coronavirus zu wirken. Die Politik führt wieder erste Öffnungsschritte durch und kündigt weitere an, und die Menschen stimmen sich schön langsam auf ein Zurück zu einer neuen Normalität ein. Das Corona-Pingpong mit (Wieder-)
Öffnungen und Lockdowns hat uns jetzt mehr als ein Jahr lang begleitet - Zeit für eine Bilanz und die Frage, was an dieser Corona-Politik gerecht und was ungerecht gewesen ist.

Aus der sozialwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Forschung wissen wir, dass nicht nur die Wirksamkeit, sondern vor allem die wahrgenommene Gerechtigkeit einer politischen Handlung für die öffentliche Unterstützung und Akzeptanz entscheidend ist. Das heißt, Corona-Maßnahmen müssen nicht nur effektiv, sondern vor allem auch gerecht sein, damit sie ihr volles Wirkungspotenzial entfalten können. In Zeiten einer Pandemie werden Gerechtigkeitsfragen plötzlich unter dem Brennglas betrachtet - hier spitzt sich die Situation zu. Wer darf aufsperren, wer nicht? Wer kann wie seinen privaten oder beruflichen Interessen und Vorlieben nachgehen? Wer verliert in der Krise - und wer schlägt daraus sogar Profit oder bekommt Anerkennung, weil er/sie viel arbeitet oder hilft?

Zunächst einmal fallen vor allem (volks)wirtschaftliche Schieflagen ins Auge. Wieso werden seit Anbeginn der Krise vor allem die Gastronomie, die Hotellerie und körpernahe Dienstleistungen benachteiligt, während die Industrie und der produzierende Bereich, aber auch Handwerksbetriebe mit durchaus häufigem Kundenkontakt keine Einschränkungen erfahren haben? Nun gibt es viele Gründe für diese Unterschiede. Viele davon haben mit Corona und der Ansteckungsgefahr zu tun, andere wie zum Beispiel die Weigerung der Industrie, in den Betrieben eine Maskenpflicht einzuführen, einfach mit Macht und einer besseren Vertretung und damit Durchsetzung von Interessen. Infektionsgeschehen lassen sich relativ gut modellieren und vorhersagen. Die auf Basis von Berechnungen abgeleiteten Maßnahmen sind aber kein Maßstab für eine gerechte Verteilung von Aufwendungen oder volkswirtschaftlichen Folgekosten.

PersönlicheVor- und Nachteile

Auf gesellschaftlicher Ebene sind vor allem persönliche Vor- und Nachteile oder positive und negative Gerechtigkeitsempfindungen von Relevanz. Ist eine Einmalzahlung in der Höhe von maximal 500 Euro für Personal in Pflegeeinrichtungen eine gerechte Entschädigung dafür, wenn mehr als ein Jahr lang ausnahmslos im Notbetrieb gearbeitet wird? Sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Supermärkten durch die enormen Gewinne der Handelsketten zu deutlichen besseren Arbeitsbedingungen gekommen? Auch bei der Impfung stellt sich die Frage der Gerechtigkeit. Eine 85-Jährige in meiner Umgebung hat jüngst die Frage aufgeworfen, wieso nicht die Jungen - wie es zum Beispiel in Indonesien praktiziert wird - zuerst geimpft werden, weil sie selbst durch Corona in ihrem täglichen Leben nur wenig eingeschränkt sei und im Vergleich zur jüngeren Generation schon ausgiebig gelebt habe. Dieselbe Person würde auf der Intensivstation liegend vermutlich argumentieren, dass es ungerecht gewesen sei, so viele junge Menschen vor ihr zu impfen, obwohl für diese kaum ein Risiko bestehe, an Covid-19 zu sterben.

Ein weiteres gutes Beispiel ist das Bildungssystem. Im Vergleich zu anderen Organisationen waren die Schulen viel länger geschlossen, was per se und vor allem von Eltern als ungerecht eingestuft wurde. Wir haben in Wien und Niederösterreich gerade die erste Woche seit Anbeginn der Pandemie erlebt, in der Schulen geöffnet und der Handel geschlossen waren. Schaut man sich das System Schule genauer an, stoßen wir auf weitere Ungerechtigkeiten. Eine Schülerin - nennen wir sie Jana, 14 Jahre alt - ging im April 2020 in eine 5. Klasse (also Oberstufe) in Niederösterreich. Sie war damit seit Ausbruch der Pandemie bis heute weit öfter zu Hause und vom Distance Learning betroffen als ihre zwei Jahre jüngere Schwester Paula. Jana hatte aber Glück: Der Verein, bei dem sie trainiert, wurde als Spitzensport eingestuft, und somit konnte sie fast wie gewohnt ihren sportlichen Tätigkeiten und Ausgleich nachgehen. Der gleichaltrige Thomas hatte weniger Glück: Er spielt bei einem Fußballverein in der für Wien höchsten Spielklasse - und konnte weder in die Schule gehen noch trainieren. Jana, Paula und Thomas sitzen oft zusammen und sprechen darüber, wie ungerecht das alles ist. Auch hier wurden seitens der Politik sehr viele Argumente vorgeschoben, wie zum Beispiel, dass ältere Jugendliche besser unbetreut zu Hause sein könnten als jüngere. Als rationales Argument ist das völlig richtig, aber ist das aus dem Blickwinkel der Betroffenen auch gerecht?

Eigene Regelnin sozialen Nischen

Diese Liste der gefühlten und tatsächlichen Ungerechtigkeiten lässt sich endlos fortsetzen; jede und jeder von uns kann dazu wohl ihre oder seine ganz persönliche Geschichte erzählen. Wichtig ist jedoch, dass sich die Politik um diese Gerechtigkeitskomponente kümmern muss. Sie darf die gefühlten Ungerechtigkeiten innerhalb der Gesellschaft nicht für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren und muss die tatsächlichen sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten aktiv und mutig ausgleichen.

Tut sie das nicht, wird das Ungerechtigkeitsempfinden der Menschen während und vor allem auch nach der Corona-Krise weiter zunehmen. Das Problem dabei ist, dass diese Menschen beginnen, sich ihre eigenen Regeln aufzubauen und diese in ihren sozialen Nischen zu praktizieren und zu leben. Die Politik als Ganze wird als ungerecht eingestuft, und der Mensch verliert das Vertrauen in staatliche Politik und Ordnung. Solidarität und der für demokratische Gesellschaften so wichtige soziale Zusammenhalt spielen in diesen Nischen keine Rolle mehr. So muss sich auch niemand mehr wundern, wenn viele der Corona-Maßnahmen - egal ob im Lockdown oder nicht - nicht eingehalten worden sind.

Auswege aus dem Gerechtigkeitsdilemma

Die Politik muss sich in Zukunft dieser zentralen Frage der Gerechtigkeit mehr und besser widmen, sonst wird eine effektive Krisenbewältigung immer schwieriger. Corona wird leider nicht die letzte Pandemie sein. Weitere Krisen, etwa die Klimakrise, stehen schon vor unserer Haustür. Zwei Lösungswege bieten sich an. Erstens kann die momentan so gehypte evidenzbasierte Politik, also eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Politik, diese Gerechtigkeitsperspektive stärker wahrnehmen, wenn sie vor allem auch Bereiche der Psychologie, der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften ausreichend berücksichtigt. Ohne aber dabei auch den Menschen beziehungsweise den Bürgerinnen und Bürgern mehr Mitentscheidungen in den so wichtigen Fragen zu gewähren, wird auch diese Politik an ihre Grenzen stoßen.

Das heißt, dass es zweitens mehr Mit- und Selbstbestimmung schon auf untergeordneten Einheiten - Betrieben, Schulen, Bezirken, Gemeinden - braucht. Eine aktive Bürgerinnen- und Bürgerschaft muss gefördert und etabliert werden - mit Hilfe von Bürgerinnen- und Bürgerräten, Versammlungen, öffentlichen Diskussionen. Denn gewähren wir einem Menschen das Recht auf Mitbestimmung, so findet dieser Mensch sich plötzlich in einer Verantwortungsrolle wieder und damit in einer Situation, pflichtbewusst und gewissenhaft über Fragen der Gerechtigkeit selbst entscheiden zu können.

Maßnahmen werden also nur dann funktionieren und als zielführend erachtet werden, wenn sie unabhängig von einer scheinbaren oder berechenbaren Effektivität auch als fair und gerecht empfunden werden. Vielleicht ist Politik nicht für das Empfinden aller zuständig - aber es wäre ihre Aufgabe, darüber nachzudenken, wie eine gerechte und faire Politik vor allem auch während und nach einer Krise aussehen könnte.