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Die neue Ungleichheit in der EU macht eine Gegenstrategie nötig

Von Karl Aiginger und Ruth Kreuz

Gastkommentare

Neue Paradigmen in der Sozialpolitik würden neue Chancen eröffnen.


Hohe Ungleichheit hat eine soziale Sprengkraft für die EU. Die Gesundheits- und Wirtschaftskrise erhöht die Gefahr eines Rückfalls in Armut besonders in Entwicklungsländern, aber auch Unzufriedenheit in "vergessenen" Regionen und Randzonen in EU-Ländern. Gleichzeitig bleiben Aktienkurse und Bonuszahlungen hoch, während Mietpreise steigen. Krisenprogramme ignorieren die langfristigen Konsequenzen dieser Dichotomie.

Europaweite regionale Ungleichheiten sinken langfristig. In jüngster Zeit ist allerdings die Divergenz zwischen Zentren und Peripherie innerhalb vieler Länder wieder steigend; ebenso wie die Einkommens- und Vermögensungleichheit, besonders durch den Anstieg der Topeinkommen und Vermögenserträge. Mit der hohen Belastung des Faktors Arbeit und geringen Grund- und Erbschaftssteuern trägt der Staat selbst zum Wiederanstieg der Ungleichheit bei.

Kompetenz und Prioritäten für soziale Fragen in der EU

Sozialpolitik war bisher primär Aufgabe der Mitgliedsländer. Der Vertrag von Rom definiert allerdings Kohäsion als Ziel und errichtet den Europäischen Sozialfonds. Dann wurde der Dialog zwischen den Sozialpartnern auf die europäische Ebene gehoben, und im Maastricht-Vertrag wurde die Zuständigkeit der EU auf die Förderung der Beschäftigung sowie die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und des sozialen Schutzes erweitert. Heute ist Sozialpolitik eine geteilte Kompetenz. Liegt keine EU-Regelung vor, obliegt sie den Mitgliedsländern. Dieser Spielraum für Europapolitik wird aber kaum genutzt, weil ein Konsens über die Ausgestaltung schwer zu finden ist.

Zuletzt fixierte die EU-Kommission für 2030 ein Beschäftigungsziel von 78 Prozent, für 60 Prozent der Beschäftigten sollen die EU-Mitglieder eine jährlichen Zusatzqualifikation garantieren und 15 Millionen Europäer aus der armuts- und ausgrenzungsgefährdeten Gruppe herauslösen. Der geforderte Mindestlohn kann nur das Ziel darstellen, die sehr unterschiedlichen untersten Lohnstufen anzuheben. Der grundlegende Reformbedarf bleibt allerdings, denn im europäischen Integrationsprozess hat die Reduktion sozialer Ungleichgewichte untergeordnete Priorität. Europa braucht einen Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik, nicht nur hohe Sozialausgaben.

Von Absicherung zusozialen Investitionen

Progressive Sozialpolitik soll befähigen und überwiegend präventiv wirken. Soziale Investitionen in frühen Lebensphasen sind notwendig, um Benachteiligung entgegenzuwirken und die Erwerbschancen im späteren Leben zu fördern. Investitionen in das Human- und Sozialkapital sowie hochwertige, leistbare soziale Dienstleistungen sind Kernelemente einer neuen Sozialpolitik, die die zentrale Bedeutung von Wissen, Fertigkeiten und sozialer Teilhabe betont.

Wesentlich wäre die gesonderte Berücksichtigung von Investitionen in Humankapital in der Budgetpolitik sowie in der Aufbau- und Resilienzfazilität. Gesundheit, Alterung und Gendergerechtigkeit durch Vereinbarkeit von Familie und Beruf und gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit sind mitzudenken. Die Sozialpolitik braucht es neue Paradigmen:

Ein Paradigmenwechsel ist notwendig, der Ungleichheit nicht erst durch Ex-post-Zahlungen begrenzt, sondern ihre Entstehung durch Bildung und Befähigung zum Wechsel verhindert.

Eine neue Sozialpolitik ist gemeinsam mit Klimapolitik und Innovationen zu entwerfen, der Faktor Arbeit ist zu entlasten, Emissionen sind zu besteuern.

Neue Gesetze sind einem Sozialtest zu unterziehen. Das Europäische Semester sollte verpflichtende Maßnahmen vorschlagen, wenn die Ungleichheit steigt. Das Initiativrecht des Europäischen Parlamentes ist zu stärken.

Das EU-Budget muss umgeschichtet werden. Die Finanzierung von landwirtschaftlicher Überproduktion ist zu reduzieren. Forschung und Weiterbildung sind zu forcieren.

So kann aus einer Sprengkraft gegen die europäische Einigung eine Chance werden.

Der vorliegende Text basiert auf einem gemeinsamen Policy Brief der Querdenkerplattform und der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE).