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Natürlich lügt die Presse, aber . . .

Von Heinrich Breidenbach

Gastkommentare

"Lügenpresse" - eine Wortkeule, die in der Regel immer bessere als schlechtere Medien trifft.


Ein braver Mann kommt in den Himmel. Neugierig schaut er sich um und entdeckt eine große bunte Apparatur mit vielen tausend kleinen Blinklichtern. Da und dort leuchtet eines auf. Er fragt den nächstbesten Engel, was es damit auf sich habe, und bekommt zur Antwort: "Immer, wenn irgendwo auf der Welt gelogen wird, leuchtet hier ein Licht auf." Es wird Abend auf der Himmelswolke. Plötzlich beginnt die ganze Apparatur wie verrückt zu blinken und zu leuchten. "Was ist los?", fragt erschreckt der brave Mann. "Ach", beruhigt der Engel, "das kennen wir, drunten geht gerade die ‚Bild‘-Zeitung in Druck."

Der Witz ist älter als der Begriff "Lügenpresse". Medien ordnen und sortieren, wählen aus, gewichten, verschweigen, lügen. Die Menschen wissen das längst. Eine kritische Grundhaltung gegenüber den Medien ist Bürgerpflicht. Der pauschale Begriff "Lügenpresse" meint aber etwas ganz anderes. Er wendet sich gegen Fakten, korrekte Berichterstattung und Rationalitäten in den Medien. Er pauschaliert unzulässig und erfasst die komplexe Medienwirklichkeit überhaupt nicht.

Am Beispiel "Pharmalobby"

Diese sehr komplexe Wirklichkeit wird am Beispiel einer ganz anderen Branche vielleicht nachvollziehbarer. Über die Schandtaten der Pharmaindustrie können Bibliotheken gefüllt werden. Über ihre astronomischen Profite, die Beeinflussung von Zulassungsbehörden, korrumpierende Pseudo-"Kongresse" in Nobelskiorten, Geschenke an die Ärzteschaft, einseitige, verkürzte Studien, fragwürdige, grausame Tierversuche, Benachteiligung ärmerer Länder, Verdrängung wirksamer, naturnaher Heilmethoden, Vertuschung gefährlicher Nebenwirkungen und vieles andere mehr.

Das muss und darf alles gesagt werden. Aber: Es wäre absurd zu behaupten, in der Pharmaindustrie würde nicht auch wissenschaftlicher und technischer Fortschritt erzielt. Es widerspräche jeder Erfahrung, zu behaupten, dass dort nicht auch zum großen Wohl der Menschheit geforscht und produziert wird. Der Begriff der "Pharmalobby" ist berechtigt, bildet aber nur die halbe Wirklichkeit ab. Er wird auch als Keule missbraucht, etwa von einer medizinischen Schattenwirtschaft aus Geschäftemachern, Scharlatanen, angeblichen Naturheilern etc. Diese mindestens ebenso profitorientierte Branche will mit dieser Keule jede Kritik an eigenen Betrügereien unterbinden. Wenn irgendein Quacksalber kritisiert wird, stimmt er sofort das Lamento an, seine "Verfolgung" sei nur das Werk der "Pharmalobby" und deren Büttel. Das hält die Gefolgschaft bei der Stange und das Geschäft am Laufen. Ähnlich verhält es sich mit der "Lügenpresse".

Medien und Wirklichkeit

Auch über die Medien müssten Bibliotheken mit kritischer Literatur gefüllt werden. Über ihre Lügen, Dummheiten, Falschmeldungen und Unterlassungen, ihre Sensationsgier und Manipulationen. Über das tägliche Gift, das sie verbreiten. Über ihre frech behauptete "Unabhängigkeit", die ihre Abhängigkeit vom Werbekapital verschweigt. Über ihre Eigentümer und Financiers, ihre Eigenschaften als (Medien-)Kapital und alle Begrenzungen, Parteilichkeiten und einseitigen Interessen, die daraus folgen. Die großen meinungsmachenden Medien sind in den allermeisten Fällen die Verlängerungen von ökonomischer und politischer Macht und keineswegs deren "unabhängige" Kontrollore, wie sie gerne von sich behaupten.

Aber: Es wäre absurd zu behaupten, dass man - selbst aus sehr miesen - Medien nichts über die Wirklichkeit erfahren kann. Dass es keine Rationalität in ihnen gibt. Dass es keine Qualitätsunterschiede gibt. Dass es nicht gute und schlechte Schreibe gibt. Dass keine verlässlich recherchierten Fakten berichtet werden. Dass nicht tausende Journalisten redlich ihre Arbeit tun und korrekt berichten. Dass wir vieles, was wir wissen, nur deshalb wissen, weil Journalisten es uns vermittelt haben. Dass es auch in miesen Blättern Journalisten gibt, die gute Arbeit leisten. Dass viele Journalisten die Freiräume, die sie haben, redlich nutzen.

Ich habe als Pressesprecher für mehrere Einrichtungen ohne ökonomische oder politische Macht gearbeitet. Deren Botschaften an die Medien zu bringen, war nicht einfach. Trotzdem haben Journalisten oft korrekt und manchmal richtig gut berichtet. Besonders freute mich über gelungene Berichte in Blättern, die ich eigentlich als miserabel einstufte. Pauschalierungen sind besonders wirksam, wenn sie mehr oder weniger große Brocken Wahrheit enthalten. Darauf setzt der "Lügenpresse"-Vorwurf. Er geißelt nicht eine Nachricht, einen Kolumnisten, eine Zeitung, ein Besitzverhältnis, einen Sender. Er analysiert nicht eine Abhängigkeit und eine Blattlinie. Er haut drauf. Scheinbar ganz allgemein, aber in Wahrheit sehr selektiv und zumeist vorsätzlich falsch.

Falsch und selektiv

Mit der "Lügenpresse"-Keule denunziert werden vornehmlich jene Medien oder jene Journalisten, die für eine höhere Rationalität und Faktentreue stehen, die nicht so berichten, wie es einer - zumeist rechten - Meute passt. Corona-Obskuranten etwa, die selbst nach Millionen Toten noch unwidersprochen behaupten, die Pandemie wäre nur erfunden, denunzieren faktentreue Medien pauschal mit dem "Lügenpresse"-Vorwurf. Sie bedrohen sie sogar aggressiv und gewalttätig. Gegenüber durchgeknallten Rechtspostillen, rechten Privatsendern und Obskurantenplattformen im Netz taucht der Vorwurf nicht auf. Sie werden, wiewohl auch "Presse", vom Vorwurf der "Lügenpresse" ausgenommen.

In den USA stellte Donald Trump nach seiner Wahlniederlage 2020 ohne Beweise einfach die Behauptung in den Raum, die Wahl sei gefälscht und ihm "gestohlen" worden. Seine Anhänger beschimpften sofort und massenhaft alle Medien, die diesen Unsinn nicht verbreiteten, pauschal als "Lügenpresse", ebenfalls zum Teil bedrohlich und gewalttätig. Beim berüchtigten Sturm aufs Kapitol wurden Arbeitsmittel von Journalisten, etwa Kameras, zerstört - rechte und rechtsextreme Medien, die Trumps unbewiesene Behauptungen zustimmend kolportierten, blieben vom pauschalierenden Vorwurf und von konkreten Bedrohungen unberührt.

Ein Schatz der Demokratie

Die öffentlich-rechtlichen Medien sind ein Schatz der Demokratien. Sie sind immer mindestens so gut, wie unsere Demokratien gut sind. Meistens besser. Im großen Unterschied zu Privatmedien liegt die Qualität öffentlich-rechtlicher Medien an den Bürgern, ihrer Wachsamkeit und ihrem Wahlverhalten. Sie sind hier mehr als nur Konsumenten. Natürlich versuchen immer die jeweils Regierenden, in öffentlich-rechtliche Medien hinein zu intervenieren und ihnen genehme Journalisten dort zu installieren oder zu fördern. Das gelingt auch. Trotzdem, unterm Strich sind Programm und Information durchwegs besser, ausgewogener, fairer und inhaltsreicher als das der privaten Konkurrenz. Sie sind daher den Rechten, Konservativen und radikalen Marktwirtschaftlern ein ewiger Dorn im Auge. So schleißig, billig, werbeunterbrochen, marktschreierisch, abhängig und tendenziös können Privatsender gar nicht sein, dass sie sie nicht als wertvolle Konkurrenz zu den Öffentlich-Rechtlichen preisen würden.

Im Gegenzug werden öffentlich-rechtliche Medien tendenziell immer unter ihrem Wert behandelt und gezielt heruntergemacht. Ihre grundvernünftige Gebührenfinanzierung ist periodisch willkommener Anlass für Skandalisierung. Wo es in Wahrheit um garantierte Meinungsvielfalt und journalistische Ausgewogenheit geht, wird "Konkurrenz" im marktwirtschaftlichen Sinn propagiert. Diverse rechte Meuten denunzieren die öffentlich-rechtlichen Medien selbstredend mit besonderem Eifer. Für sie stehen sie in der vordersten Linie der "Lügenpresse".

Als Faustregel kann gelten: Je mehr Qualität ein Medium hat, je wirklichkeitsnäher seine Nachrichten sind, desto mehr wird es als "Lügenpresse" gescholten. Reaktionärer Schund kommt hingegen gut weg.