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Der globale Süden an der Kippe

Von Günter Spreitzhofer

Gastkommentare

Während die Industriestaaten auf Börsenkurse, psychosoziale Folgen und Kurzarbeit schauen, geht es in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern ums nackte Überleben.


Die Länder des Südens waren schon vor der Corona-Pandemie vulnerabel. Abhängig von globalen Märkten und Handelsnetzen, basieren viele Volkswirtschaften Afrikas, Lateinamerikas und weite Teile Asiens nicht erst seit postkolonialen Zeiten auf dem Export von mineralischen und agrarischen Rohstoffen. Dafür gibt es Nachfrage und Abnehmer in den Ländern des Nordens, die prekäre Arbeitsbedingungen und massive Umweltschäden lange sehenden Auges in Kauf nahmen, solange der Preis stimmte und den aufkommenden Wohlstand nicht behinderte. Diskussionen über Klimaschutz, Menschenrechte und faire Preise nahmen gerade allmählich Fahrt auf und waren plötzlich kein mediales Minderheitenprogramm mehr. Die Welt schien ein wenig zusammenzurücken.

Doch dann kam Covid. Und alles war anders, vergessen die globalen Ausgleichsbestrebungen. Die reichen Industrienationen Europas und Nordamerikas waren sich wieder selbst die Nächsten und holten ihre Staatsbürger in spektakulär inszenierten Aktionen heim in die vermeintliche Sicherheit. Australien schloss überhaupt ein Jahr seine Grenzen, und Europas Kontakte zur armen Außenwelt in Übersee wurden abgebrochen oder auf ein Minimum reduziert.

Verlässliche Zahlen und Bilder - seit einem Jahr Quotengarant, faktenbasierte Grundlage politischer Maßnahmenbündel und dennoch in ihrer Interpretation selbst in Europa alles andere als unumstritten - fehlen vielfach. Die vorher schon dünne Datenlage zu Verbreitung und Folgen des Virus in den LDC-Staaten (Least Developed Countries - die sogenannte Vierte Welt) ist nicht deutlich dicker geworden; zugleich poppten schaurige Meldungen zu Opferzahlen aus den NICs-Staaten (Newly Industrializing Countries - Schwellenländer) Brasilien, Mexiko und Indien auf, deren statistische Systeme zwar westlichen Standard haben, aufgrund oftmals autokratischer Regierungsformen, politischer Opportunität und unterschiedlicher Zählweisen jedoch internationale Vergleichbarkeit massiv erschweren.

Nebenwirkungen überall: Afrika im Teufelskreis

Das Horrorszenario der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von März 2020 - unkontrollierbare Infektionsketten, Millionen Tote und Zusammenbruch der Gesundheitssysteme - ist in Afrika jedenfalls ausgeblieben. Von 1,3 Milliarden Einwohnern starben bis April 2021 offiziell 36.200 Menschen an und mit Covid - nicht einmal ein Drittel der britischen Totenzahl -, etwa zwei Drittel davon allein im Schwellenland Südafrika. Resultat inadäquater Datenerfassung? Oder bloß die erfreuliche Folge so großmaßstäbiger wie erratischer Lockdowns, die Länder wie Mosambik oder Simbabwe ohne Vorankündigung rigide verhängten, ohne Kompromisse mit (nicht existenten) Sozialpartnern und Gewerkschaften eingehen zu müssen?

Immer mehr erweist sich die aktuelle Pandemie - trotz aller Mutationen - als Erkrankung, die vor allem für überalterte Gesellschaften mit Zivilisationskrankheiten bedrohlich ist. Nur 3 Prozent der afrikanischen Bevölkerung sind über 65 Jahre, das Medianalter etwa in Uganda liegt bei 15,8 Jahren (Deutschland: 47,1). Die wichtigsten Risikofaktoren - Übergewicht, Typ-2-Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen - sind nur in der wachsenden, aber zahlenmäßig überschaubaren Mittelschicht anzutreffen.

Aktuelle Antikörperstudien in zahlreichen afrikanischen Staaten belegen, dass 10 bis 43 Prozent der Bevölkerung bereits eine Infektion durchgemacht haben. In Kenia etwa wurden 39.000 Corona-positive Fälle gemeldet, Antikörper wurden allerdings für 1,6 Millionen Menschen hochgerechnet, wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland festhält. Die offizielle Mortalitätsrate ist jedenfalls gering, auch unter Berücksichtigung potenziell hoher Dunkelziffern: Häufungen von symptomatischen Fällen oder Übersterblichkeit wurde nirgendwo konstatiert.

Das Dilemma ist vielschichtig und eigentlich kaum lösbar. Einerseits zwingt Covid-19 volatile Gesundheits- und Bildungssysteme der Dritten Welt in die Knie, wo Kliniken, Schutzanzüge und adäquate ärztliche Versorgung oftmals Mangelware sind: Im Senegal etwa versorgt ein Arzt 70.000 Menschen, in der EU 300. Konnten schon vor der Pandemie eine Viertelmilliarde Kinder im schulpflichtigen Alter keine Schule besuchen, so waren es bis Jänner 2021 rund eineinhalb Milliarden, für die Homeschooling ohne digitale Hilfsmittel illusorisch ist.

Hunderte Millionen Tagelöhner ohne Einkommen

Unzureichende staatliche Sozialsysteme wiederum können keine Hilfe leisten, wenn Ausgangsbeschränkungen die Wirtschaft ganzer Subkontinente lahmlegen. Die Stilllegungen wiederum bewirken, dass hunderte Millionen Tagelöhner und deren Familien ohne Einkommen sind. Drei Viertel der Bevölkerung in Subsahara-Afrika leben von informellen, in staatlichen Steuersystemen nicht erfassten Tätigkeiten - als Kleinbauern, Händler auf lokalen Märkten oder Transportunternehmer. So wären Kurzarbeit und staatliche Kompensationszahlungen für Produktionsausfälle illusorisch, selbst wenn es sie gäbe.

Lokale Lockdowns gestalten nicht nur den Verkauf von Waren unmöglich, sondern erschweren auch den Zugang zu lebenswichtigem Saatgut, machen Weidegebiete auch in der Sahelzone unzugänglich und Wanderarbeiter arbeitslos, womit Felder nicht bestellt werden konnten; Saisonalität spielt in Europas industrialisierter Landwirtschaft dagegen eine vergleichsweise marginale Rolle. Die Folge waren Warenverknappungen und Preissteigerungen.

Geschlossene Grenzen blockierten nicht nur den Tourismus, sondern auch den medizinischen Nachschub: Laut dem Bündnis "Entwicklung Hilft" wurden mehr als 60 Prozent aller Programme zu Immunisierungskampagnen, Langzeitbehandlungen von TBC oder Zugang zu Kontrazeption aufgrund des weltweiten Fokus auf Covid-19 drastisch eingeschränkt. WHO-Prognosen zufolge könnte der Zusammenbruch der Malaria-Prophylaxe-Maßnahmen jährlich bis zu 100.000 zusätzliche Todesfälle mit sich bringen - etwa dreimal so viele wie die Zahl der bekannten Corona-Opfer. Allein in Afrika starben 2018 rund 213.000 Menschen an Malaria, ein Vielfaches mehr an Unterernährung. "Warum schlagen wir so sehr Alarm bei Covid-19? Bei Malaria ist es anscheinend normal, dass jedes Jahr tausende Kinder daran sterben", beklagt Matshidiso Moeti, WHO-Generaldirektorin für Afrika.

Die Lösung klingt simpel: Impfung statt Entwicklung

Dass die Rezession in den Industrieländern seit März 2020 zu sinkender Nachfrage nach Rohstoffen führt, lässt wiederum die Preise kollabieren: Prognosen der Weltbank lassen für die am wenigst entwickelten Länder über Jahre Stagnation oder äußerst geringes Wachstum erwarten, was auf einer Kombination aus hohen staatlichen Haushaltsdefiziten und auf Fremdwährungen laufenden Unternehmensschulden beruht: Rund 75 Prozent aller Entwicklungsländer weisen Leistungsbilanzdefizite auf, die viermal höher als 2007 waren.

Nicht nur Indiens Premier Narendra Modi erwartet, dass die Corona-Krise sein schwer getroffenes Land um eine ganze Generation zurückwerfen wird; für Afrika wird die erste Rezession seit einem Vierteljahrhundert erwartet. Axel van Trotsenburg, Managing Director of Operations der Weltbank, will mit Zahlen vorsichtig sein: "Ich werde nicht spekulieren, um wie viele Jahre die Welt zurückfällt, aber es wird wesentlich schlimmer werden als in der Weltfinanzkrise ab 2007."

So gilt das eurozentriert-wirtschaftspolitische Credo derzeit einzig der Produktion und Verteilung von Impfstoffen als Allheilmittel zum ökonomischen Wiederaufbau des Planeten. Die G20 haben ein Schuldenmoratorium für die 77 ärmsten Länder im Ausmaß von 14 Milliarden Dollar angekündigt, ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Industriestaaten wiederum deckten sich schon im Dezember 2020 mit der drei- bis vierfachen Menge an Impfstoffen ein, die sie für ihre Bevölkerungen eigentlich benötigen.

Zugleich erweitert China mit seinem Corona-Impfstoff SinoVac seinen globalen Einfluss. "Act-A", das zentrale Programm der WHO zum Kampf gegen die Pandemie, fordert seinerseits 28 Milliarden US-Doller bis Ende 2021, um die globale Impfstoffversorgung sicherzustellen. Ob die Gelder zur ökonomischen Rettung der Entwicklungs- und Schwellenländer aus der Pandemie anderweitig besser investiert wären, bleibt offen.