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Eine Liturgie der Einbrennsuppe

Von Peter Strasser

Gastkommentare
Peter Strasser ist emeritierter Ao. Professor an der Universität Graz, wo er Rechtsphilosophie, Ethik und Religiöses Denken unterrichtet hat. Er hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt: "Des Teufels Party. Geht die Epoche des Menschen zu Ende?" sowie "Umdrehen und Weggehen. Eine Ethik der Abwendung". 2014 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik.
© Christian Jungwirth

Die Kirchenkrise nach Adolf Holl.


Vor kurzem erschien Adolf Holls letztes, nachgelassenes Buchmanuskript. Dessen Titel, "Leibesvisitationen", hatte der Autor noch selbst gewählt. Holl war eine herausragende intellektuelle Persönlichkeit, ein Kirchenrebell - erinnert sei an sein Buch "Jesus in schlechter Gesellschaft" (1971) -, Religionswissenschafter und Publizist, seine Moderationen im ehemaligen "Club 2" des ORF sind legendär. Er verstarb am 23. Jänner 2020 im 90. Lebensjahr. Seine Aktualität ist - erstaunlich genug - ungebrochen. Ein Blick in seine Schriften zeigt, dass Holl die Krisen und Chancen der heutigen christlichen Kirchen, namentlich der römisch-katholischen, scharfsichtig kommentierte; auch was die Gefahren einer Wiederkehr des religiösen Fundamentalismus betrifft, machte er sich keine Illusionen.

Die Idee der "Leibesvisitationen" ist Holls Einsicht geschuldet, dass keine Religion auf Dauer als eine ausgedünnte philosophische Lehre zu existieren vermag. Schon 2003 schrieb Holl in "Weihrauch und Schwefel": "Nicht der Inhalt von Glaubensbekenntnissen ist Gegenstand des Interesses, sondern der Tonfall, in dem sie vorgetragen werden. Von bestimmten Kirchengerüchen geht die Rede, von Körperhaltungen beim Gottesdienst." Dass das Grobkörperliche heute von vielen Gläubigen als unziemlich empfunden und durch die Blutleere sogenannter "spiritueller" Praktiken und Erlebnisse ersetzt wird, war Holl nie geheuer. Aus der Blässe des Heiligen erwächst die Versuchung zum Fundamentalismus.

Die "Leibesvisitationen" beginnen, scheinbar weitab vom Religiösen, mit der Zubereitung einer Einbrennsuppe, womit ein deftiger Auftakt gesetzt wird, der an so manches mönchische Gemeinschaftsmahl, begleitet von einer Lesung aus der Heiligen Schrift, erinnern mag. Holl erzählt auf gut Wienerisch, wie man in einem Kochtopf die Butter langsam "zerschleichen" lässt, Mehl beifügt, umrührt, nach erfolgter Bräunung der "Schwitze" mit Wasser aufgießt, salzt, sodass man nach einigen Minuten des Köchelns eine Einbrennsuppe bereitet hat, von der gesagt werden darf: "Nach Einnahme des Süppchens hat sich das Leben zum Besseren verändert."

Theologie, ein Furz und religiöse Tiere

Das klingt nicht nach einem theologischen Traktat. Und so finden sich auch in den "Leibesvisitationen" allerlei Geschehnisse und Praktiken, die selbst vor dem Vulgären nicht haltmachen. Über James Joyce erfahren wir: "Im Ulysses wiegt ein Furz aus dem Hinterteil der Hauptfigur ebenso schwer oder leicht wie ein Zitat aus der ‚Summa Theologica‘ des heiligen Thomas von Aquin." Wer diese Stelle liest, den könnte ein Gefühl der Blasphemie beschleichen. Sollte es aber nicht. Auch der Furz ist Teil der Schöpfung, vergleichbar der platonischen Idee des Pferdemists, wovon jener, welcher, hienieden den Gesetzen der Schwerkraft folgend, als dampfender Pferdeapfel aus einem realen Pferdehintern plumpst, nur ein schwaches Abbild zu sein vermag.

Den Katzenliebhaber Holl beschäftigt die scheinbar obskure Überlegung, ob seine beiden Katzen "beten" können. Dahinter steckt ein weitläufiges Wissen, nämlich darüber, dass in archaischen Religionen, im alten Ägypten und Fernen Osten gewisse Tiere stets heilig waren, ihre Körper lebendige Gefäße der Seelenwanderung, ihre Seelen dem Menschen gewogen, der Natur aufs Innigste verbunden. Holls augenzwinkerndes Argument: Keineswegs jedes Tier eignet sich zu religiösen Zeremonien. "Nicht alle Tierarten sind für Gebetshaltungen disponiert. Pinguine zum Beispiel erinnern an Geistliche, während Hunde durch ihre Neigung zum Bellen andachtslos bleiben müssen."

Wandel des Verhältnisses zwischen Priester und Gemeinde

Holl hat den Zustand der heutigen Kirche aus verschiedenen Gründen mit gemischten, nicht immer widerspruchslosen Gefühlen beobachtet. Der Priester von einst stand der Kirchenreform des Zweiten Vatikanischen Konzils, 1962 von Papst Johannes XXIII. einberufen unter dem Motto "Aggiornamento", also "Erneuerung", einigermaßen skeptisch gegenüber. Unter den vielen Reformpunkten wurde von den Konzilsvätern auch dem Wunsch vieler Laien entsprochen, die Heilige Messe auf Deutsch zu lesen; außerdem sollte der Priester die sakralen Handlungen fortan mit dem Gesicht zur Gemeinde vollziehen.

Diese Hinwendung wurde von Holl begrüßt, doch zugleich vermisste er nun das Moment des Mystischen. Fehlte nicht die eigentümliche, intime Beziehung des Priesters zum Heiligen, wie sie durch die alte lateinische Zeremonie zumindest in manchen Momenten hergestellt wurde und auf die anwesenden Gläubigen übersprang? Die vorkonziliare Liturgie war ein ausgefeiltes Ballett von eigener Eindringlichkeit; die lateinischen Formeln, die Holl als junger Ministrant nur bruchstückhaft, wenn überhaupt verstand, hüllten das Tun des mit dem Rücken zur Gemeinde zelebrierenden Priesters in eine eigentümliche Aura der Gottesnähe, vermittelt durch geheimnisvolle, schamanenhafte Tätigkeiten vor dem Altar, die indessen das sinnliche Erleben der Mitzelebranten zu steigern vermochten.

In Holls Buch "Tod und Teufel" (1973) findet sich die Schilderung eines mystischen Erlebnisses während der Wandlung, der Autor war damals - vor seiner Suspendierung im Jahr 1976 - selbst messelesender Priester: "Gleichwohl geschieht es dann und wann, dass für Augenblicke ich mir vorkomme, als ob ich mit den Augen in die Hostie eindringen, in sie einsinken würde, zusammen mit dem Gefühl, mich in einer Wölbung zu befinden. Diese Empfindung habe ich wirklich. Ich möchte sie ungern unterdrücken." Worunter Holl späterhin litt, war nicht nur der Umstand, dass sich dieses Gefühl absoluter Geborgenheit kaum noch wiederholte, sondern im Kontext der reformierten, das religiöse Erleben "banalisierenden" Liturgie auch gar nicht mehr einstellen konnte.

Kirche im Zwiespalt zwischen Moderne und alter Engstirnigkeit

Holls Diagnose der Situation, in der sich die Kirche, namentlich die römisch-katholische, im aufgeklärten Westen befindet, musste also zwiespältig ausfallen. Er fand es höchst ärgerlich, dass man die Priester weiterhin zur Keuschheit verpflichtete und die Frauen von der Praktizierung sakramentaler Handlungen fernhielt. Dass man noch immer geheime Vorbehalte gegen gewisse Segmente der modernen Wissenschaft hatte, gegen Evolutionstheorie und Genetik, schien Holl ein Zeichen einer unbelehrbaren Engstirnigkeit alter Männer. Aber er erkannte auch - und zwar mit allen Fasern seines Intellekts und seiner Sinnlichkeit -, dass eine Übernahme des "modernen Weltbildes" notgedrungen dazu führte, dass sich die Kirchen leerten. Was tun?

Darauf gab Holl keine eindeutige Antwort; und es gibt wohl keine wirklich gute. Vermutlich wird die römisch-katholische Kirche mit dem geistigen Überaltern zu einem gewichtigen Teil als Denkmal ihrer selbst fortbestehen, bei einer zusehends schwindenden Anzahl von Gläubigen. Aber wäre das so schlimm? Der religiöse Urtrieb wird weiterexistieren, er wird weiterhin nach "Leibesvisitationen", der handgreiflichen Einkehr des Göttlichen in die menschliche Welt verlangen - und vielleicht darf die kundige Herstellung einer Einbrennsuppe als milde, freundliche Alternative zu den erdbebenartigen Ankündigungen eines neuen fundamentalistischen Irrationalismus begrüßt werden.

Adolf Holls "Leibesvisitationen" können unter www.adolf-holl.at bestellt werden.