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Vergessene Welten und blinde Flecken

Von Ladislaus Ludescher

Gastkommentare
Ladislaus Ludescher ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Mannheim.
© privat

Viele Medien vernachlässigen die Länder des Globalen Südens in ihrer Berichterstattung.


"Wie realistisch bilden die Medien die Welt ab?" Das ist eine der Kernfragen der Medienwissenschaften. Nicht selten weisen Medien einen blinden Fleck auf, wenn es um den Globalen Süden - oft auch "Dritte Welt" oder "Entwicklungs- und Schwellenländer" genannt - geht.

Die Langzeitstudie "Vergessene Welten und blinde Flecken" hat unter anderem mehr als 5.100 Sendungen der deutschen "Tagesschau" aus den Jahren 1996 und 2007 bis 2019 sowie Berichte in Leitmedien wie "Deutschlandfunk", "Süddeutsche Zeitung", "Der Spiegel", "ARD-Brennpunkt", "Anne Will", "Hart aber Fair", "Maischberger", "Maybrit Illner", "CBS Evening News", "The Washington Post", "Time", "The Guardian" und "Le Monde" untersucht.

Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Beiträge überproportional intensiv auf den "Westen" und die Länder der MENA (Middle East North Africa)-Region konzentrieren, zu Lasten der Staaten des Globalen Südens. Nimmt man die Bevölkerungszahlen der Länder als Grundlage, wird deutlich, dass der größte Teil des Globalen Südens stark unterrepräsentiert ist.

Die unausgewogene Berichterstattung kann dramatische Formen annehmen. Auf die Hungersnot in Ostafrika und der Tschadsee-Region, von der am Ende des Jahres 2017 fast 37 Millionen Menschen betroffen waren und die der UN-Nothilfekoordinator Stephen O’Brien als größte drohende humanitäre Katastrophe seit Gründung der Vereinten Nationen bezeichnete, entfielen in der Hauptausgabe der "Tagesschau" von den fast 3.200 im Jahr ausgestrahlten Berichten (ohne Sport), lediglich 11 Beiträge. Diese hatten insgesamt eine Dauer von etwa 20 Minuten - bei einer Gesamtsendezeit von ca. 5.500 Minuten (fast 92 Stunden). Mit der größten jemals in der Menschheitsgeschichte gemessenen Cholera-Epidemie, die sich im Jemen ausbreitete, beschäftigte sich die "Tagesschau" im Jahr 2017 in lediglich 16 Sendeminuten.

Das "Wo" entscheidet über die Intensität der Berichterstattung

Das unterschiedliche Interesse an geografischen Regionen zeigt sich am Beispiel größerer Flutkatastrophen besonders deutlich, die sich, teilweise im Zuge von schweren Wirbelstürmen, von Juli bis Oktober 2017 ereignet haben. Jedes Jahr bedrohen tropische Stürme die Karibikregion sowie den Süden der Vereinigten Staaten. Zur atlantischen Hurrikan-Saison 2017 gehörten die tropischen Wirbelstürme "Harvey", "Irma" und "Maria", die rund 310 Menschenleben forderten und Schäden in Milliardenhöhe hinterließen. Die "Tagesschau"-Hauptsendung widmete den drei Hurrikans an 19 Tagen insgesamt 37 Minuten und 40 Sekunden Berichtzeit. Dabei konzentrierten sich die Beiträge geografisch stark auf die USA (Texas, Florida sowie Puerto Rico).

Etwa im selben Zeitraum starben von Juli bis September infolge schwerer Überschwemmungen in Südasien, respektive Bangladesch, Nepal, Indien und Pakistan, mehr als 2.100 Personen. Schätzungsweise 45 Millionen Menschen, darunter 16 Millionen Kinder, waren von den heftigen Monsunregen betroffen. Diese Katastrophe wurde in drei Sendungen mit 2 Minuten und 30 Sekunden Berichtzeit erwähnt.

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Ähnlich unverhältnismäßig fiel die Berichterstattung über Überschwemmungen und Erdrutsche in Sierra Leone Mitte August aus. In dem afrikanischen Staat war wie bei den drei erwähnten Hurrikans der Verlust von mehr als 300 Menschenleben zu beklagen, die "Tagesschau" berichtete hierüber in zwei Beiträgen mit einer Gesamtlänge von 55 Sekunden. Die Überschwemmungen im Südosten Nigerias von Ende August bis Anfang September, in deren Folge mehr als 100 Menschen starben und 100.000 Personen flüchten mussten, fanden gar keine Erwähnung.

Gründe für eine unausgewogene Berichterstattung

Es drängt sich die Vermutung auf, dass sich die Berichterstattung nach der vermeintlichen kulturellen oder geografischen Nähe richtet. In einigen Medien dürften Nachrichten eine besondere Berücksichtigung finden, die einen Sensationswert haben - Terror und Krieg scheinen reizvollere Themen zu sein als Hunger.

Eine Erklärung, allerdings nicht die Ursache, für die überwiegende Konzentration der Berichte auf den Westen liegt darin, dass das Korrespondentennetz hier weitaus dichter ausgeprägt ist als in den Staaten des Globalen Südens, womit eine höhere Nachrichtendichte der entsprechenden Regionen gewissermaßen programmiert sein dürfte. Während der Westen vergleichsweise engmaschig mit Berichterstattern abgedeckt ist, ist zum Beispiel das Fernsehstudio der ARD in Nairobi (Kenia) mit zwei Korrespondenten für 38 afrikanische Staaten, die insgesamt rund 870 Millionen Einwohner zählen, zuständig.

Sicherlich spielt auch der mediale Diskurszirkel eine wichtige Rolle: Ein Medium berichtet über etwas, weil Konkurrenzmedien darüber berichten, und trägt damit zur Diskursstabilisierung des jeweiligen Themas bei, was wiederum dazu führt, dass weitere Medien auf den jeweiligen Nachrichtenzug aufspringen. Diesen Zirkel mit vergleichsweise unkonventionellen Themen abseits der üblichen Diskursregionen zu durchbrechen, ist schwer. Gerade dies ist aber für eine ausgewogene Berichterstattung notwendig.

Medien bilden öffentliche Diskurse nicht nur ab, sondern generieren diese mit. Nachrichten können die Öffentlichkeit auf gesellschaftliche und politische Ereignisse und Entwicklungen aufmerksam machen und so auf direktem oder indirektem Wege politische Entscheidungsprozesse beeinflussen. Umgekehrt kann das Ausbleiben einer Berichterstattung erhebliche Auswirkungen haben.

Ein nicht gesendeter oder veröffentlichter Beitrag hingegen kann die öffentliche Meinungsbildung verhindern, denn möglicherweise hätte erst ein Bericht das Bewusstsein für die Existenz eines Themas geschaffen. Relevant für die öffentliche Meinungsbildung ist daher nicht nur jeder ausgestrahlte Bericht, sondern auch das Fehlen von Nachrichtenbeiträgen.

Wenn Katastrophen, die sich im Globalen Süden täglich ereignen, für alltäglich genommen werden und daher ihren Status als "berichtenswerte" Nachrichten verlieren, bedeutet dies ein hohes Gefahrenpotenzial für die Ausgewogenheit der medialen Berichterstattung, die im schlimmsten Fall zu einer medialen Blindheit gegenüber Menschen im Globalen Süden oder ihren Themen führen kann.

Die Studie, eine Videozusammenfassung sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Poster-Wanderausstellung können kostenlos auf www.ivr-heidelberg.de eingesehen beziehungsweise heruntergeladen werden.