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Die Schmuddelkinder der Zweiten Republik

Von Andreas Mölzer

Gastkommentare

Am Samstag wird Herbert Kickl zum neuen FPÖ-Obmann gewählt. Hat die FPÖ weiterhin eine politische Zukunft?


Die Kornblume, ein Symbol der FPÖ.
© Daniel Novotny

Die blaue Blume der deutschen Romantik - Novalis lässt grüßen - ist für das nationalliberale Lager, für den ursprünglich deutschnational-freisinnigen Bereich der politischen Landschaft ähnlich symbolträchtig, wie es die rote Nelke für die Sozialdemokratie ist. Missbraucht von den Nazis, geächtet von der Political Correctness unserer Tage, schien sie - heftig umstritten - gerade noch bei der einen oder anderen Angelobung neu gewählter freiheitlicher Parlamentarier im Nationalrat auf. Angesichts des FPÖ-Neustarts, der am kommenden Samstag bei einem außerordentlichen Parteitag in Wiener Neustadt über die Bühne gehen soll, stellt sich die Frage, ob diese blaue Blume, symbolhaft versteht sich, vor dem Verdorren steht oder sich zu neuer Blüte entfalten kann.

Zwei freiheitliche beziehungsweise FPÖ-nahe Intellektuelle haben sich kürzlich zum Zustand der Partei zu Wort gemeldet: Der Rechtshistoriker und vormalige Dekan der juridischen Fakultät der Universität Wien, Wilhelm Brauneder, stellte sich die Frage, warum man die FPÖ überhaupt wählen solle. Er kam dabei zu dem Schluss, dass es die Partei seit Jahren an intellektueller Kompetenz mangeln ließe. Der Wiener Historiker Lothar Höbelt meinte angesichts des überhasteten Rückzugs des vormaligen Obmanns Norbert Hofer, dass es in der FPÖ latent so etwas wie ein Bedürfnis gebe, von den politischen Mitbewerbern gehasst zu werden.

Nun mögen beide in gewisser Hinsicht rechthaben. Was Brauneder betrifft, so ist es eine traurige Tatsache, dass im universitären Bereich freiheitliche Präsenz kaum mehr feststellbar ist. Dort, wo vor dem Umbruch des Jahres 1968 Korporierte dominierten, gibt es heutzutage kaum mehr bekennende Freiheitliche. Und tatsächlich waren die Bemühungen der FPÖ unter Heinz-Christian Strache, auch auf der intellektuellen Ebene den politischen Diskurs zu suchen, überschaubar.

Nazi-Keule und Stigmatisierung

Was Höbelt betrifft, so stellt seine pointierte Aussage zwar einen tatsächlich zu diagnostizierenden Ist-Zustand dar; er vergisst aber, auf die Ursachen hinzuweisen. Diese liegen natürlich darin, dass die Freiheitlichen beziehungsweise auch deren Vorgänger, der Verband der Unabhängigen, so etwas wie die Schmuddelkinder, die Zuspätgekommenen der Zweiten Republik sind.

Andreas Mölzer ist Publizist und war Abgeordneter der FPÖ im EU-Parlament.
© CC BY-SA 3.0 / Foto-AG Gymnasium Melle

Als sich im Frühjahr 1945 Schwarz und Rot unter lästiger Teilhabe der unpopulären, bloß durch die sowjetische Besatzungsarmee gestützten Kommunisten die wieder errichtete Republik aufteilten, stand das nationalfreiheitliche Lager bekanntlich abseits. Diskreditiert durch den Nationalsozialismus, durch die NS-Gesetzgebung, ausgeschlossen von der politischen Partizipation, verblieben hier nur die Unbelehrbaren: jene, die die neue Staats-Räson, basierend auf der Moskauer Deklaration von 1943, wonach Österreich das erste Opfer des Hitler-Faschismus sei, nicht mittrugen, die Existenz einer österreichischen Nation nicht akzeptierten und sich nach wie vor als Deutsche fühlten.

Als Ende der 1940er Jahre der Verband der Unabhängigen eine neue politische Bewegung schuf, die all jenen eine Heimat bieten sollte, die sich einerseits dem klerikalen Bereich und andererseits jenem des Austromarxismus versagten, war es naheliegend, diese Bewegung mit der Nazi-Keule, mit der Stigmatisierung als Ewiggestrige und Rechtsextreme zu bekämpfen. Und dieser Mechanismus blieb über nahezu 70 Jahre derselbe.

Gegenentwurf zum Establishment

Umgekehrt hat sich innerhalb dieses Lagers so etwas wie ein genuin systemkritisches Bewusstsein verankert, das darin besteht, dass man sich selbst nicht als Teil des politischen Establishments, sondern als dessen fundamentalen Gegenentwurf versteht. Und naturgemäß führt die psycho-politische Verfasstheit dieses Lagers dazu, dass die darauf basierende Parlamentspartei eher Opposition kann als regieren.

All dies beantwortet allerdings noch nicht die von Brauneder aufgeworfene Frage, warum man denn diese FPÖ wählen solle. Nur gegen Klerikal-Schwarz beziehungsweise Links-Austromarxistisch zu sein, nur aufgrund einer Aversion gegen das Establishment der Zweiten Republik dürfte wohl zu wenig sein. Und auch die historisch gegebenen ideologischen Motivationen - einerseits der Deutschnationalismus, andererseits der altliberale Freisinn - spielen gesamtgesellschaftlich kaum noch eine Rolle.

Auch wenn die Historikerin Margit Reiter wähnt, Deutschnationale hätten in der Partei heute so viel Einfluss wie nie, muss darauf hingewiesen werden, dass es längst im christlich-konservativen Bereich, aber auch bei Linken weit stärkere Verbindungen zwischen Österreich und Deutschland gibt. Deutschnationalismus im Sinne von Anschlussbestrebungen gibt es nicht mehr, und kulturnationale Bestrebungen schwinden angesichts der bundesdeutschen Leitideologie der Political Correctness auf der freiheitlichen Seite zugunsten von Sympathien für die Viségrad-Staaten.

Ähnlich verhält es sich beim Kampf um den freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat, der im puristisch-ideologischen Sinne längst ein Minderheitenprogramm geworden ist. Dennoch ist es erhellend, wenn man die freiheitliche politische Agitation der vergangenen Jahre auf ihre dogmengeschichtliche Fundierung abklopft. Das zentrale FPÖ-Thema, nämlich das Eintreten gegen Massenmigration und Asylmissbrauch sowie gegen allzu rasche und zahlreiche Einbürgerungen, basiert auf dem Eintreten für die Erhaltung der historisch Gewachsenen nationalen Identität der autochthonen Österreicher, ist also im Grunde Ziel einer national orientierten Politik. Und das massive freiheitliche Auftreten gegen die Einschränkungen der Bürgerrechte im Zuge der Corona-Maßnahmen gründete auf dem liberalen Beharren auf Grund- und Freiheitsrechte. Beide Bereiche sind also Themen nationalliberaler Politik und beweisen so etwas wie dogmengeschichtliche Kontinuität in der politischen Agitation der FPÖ.

Konstanten freiheitlicher Politik

Natürlich gibt es zwischen der Politik der nationalliberalen Honoratiorenpartei der 1960er und 1970er unter Friedrich Peter, zwischen dem Bestreben der FPÖ unter Norbert Steger nach "lupenrein liberaler" Politik und der Ausformung des Rechtspopulismus in der FPÖ unter Jörg Haider und dann unter Strache gewaltige Unterschiede. Diese nationalliberale Fundierung aber der jeweiligen Bestrebungen und der Anti-Establishment-Reflex waren und sind Konstanten freiheitlicher Politik.

Die in der Strache-FPÖ aufgekommene eher triviale Bezeichnung von der "sozialen Heimatpartei" entsprach dem, was in der Haider-Ära der Politologe Fritz Plasser als "Arbeiterpartei neuen Typs" bezeichnete: eine Bewegung nämlich, die sich im Zuge der Stimmenmaximierung um den "kleinen Mann" kümmerte. Tatsächlich dürfte das soziale Element in der freiheitlichen Politik, das von politischen Gegnern natürlich als Erbe der NS-Volksgemeinschaftsideologie stigmatisiert wird, keine unwesentliche Rolle spielen.

Ob eine derart orientierte Partei auf Basis der tradierten weltanschaulichen Elemente Zukunft haben wird, ob also die Frage Brauneders, warum man denn die FPÖ wählen solle, positiv beantwortet werden kann, liegt nicht zuletzt an der Entwicklung der politischen Landschaft insgesamt. Die ÖVP unter Sebastian Kurz hat gezeigt, dass man durch Plagiate erfolgreicher Oppositionsthemen, wie der freiheitlichen Politik im Migrationsbereich, Erfolg haben kann. Der Versuch der ÖVP aber, die Freiheitlichen gewissermaßen überflüssig zu machen, ist alleine deshalb misslungen, weil der gelernte Österreicher schnell feststellen musste, dass der türkise Verbalradikalismus bei der Migration vorwiegend ein Lippenbekenntnis war und man der Lösung des Problems nicht näher kommt.

Vertreter der sozial schwachen autochthonen Schichten

Gleich verhält es sich im Bereich der Bürgerfreiheit: Auch, wenn Linksparteien wie die Grünen Demokratie, Transparenz und Bürgerbeteiligungen ständig im Mund führen, müssen die Österreicher dennoch erkennen, dass eben dieselben politischen Kräfte für Gebote und Verbote, für Reglementierung und Gängelung der Bürger eintreten. Und dass somit der Bedarf nach einer politischen Kraft, die kompromisslos für die Bürgerfreiheit eintritt, gegeben sein wird. Dies ist im Grunde die Überlebensgarantie einer Partei, wie der FPÖ.

Und was das soziale Element betrifft, so sind die Solidarität innerhalb der eigenen Solidargemeinschaft, ein funktionierender Generationenvertrag und das Eintreten gegen die Massenzuwanderung in das eigene Sozialsystem wohl die einzigen Möglichkeiten, das künftige Funktionieren eben dieser Systeme zu bewahren. Aus dieser Sicht könnten sich die Freiheitlichen zunehmend als Vertreter der sozial schwachen Schichten unter den autochthonen Österreichern positionieren und als Hüter jener Menschen, die im neuen Verdrängungswettbewerb am Arbeitsmarkt, am Wohnungsmarkt, insgesamt im sozialen Gefüge gegenüber einem Zuwanderer-Subproletariat unter die Räder zu geraten drohen.

Nach den Turbulenzen von Ibiza und unter neuer Führung könnten die Freiheitlichen also beweisen, dass die Nachrichten vom politischen Ableben der FPÖ verfrüht waren. Die Hoffnungen, dass die blaue Blume verblühen würde, dürften also trügen. Vorläufig aber dürfte sie nicht als liebliche Glockenblume erblühen, sondern eher stachelig. Auch die Distel treibt blaue Blüten.