Zum Hauptinhalt springen

Die Delta-Welle und oberflächliche Pandemiedebatten

Von Ernest G. Pichlbauer

Gastkommentare
Dr. Ernest G. Pichlbauer ist unabhängiger Gesundheitsökonom und Publizist.

Die neue Variante des Coronavirus wird sich ausbreiten, die Inzidenz wird steigen. Doch was heißt das? Die vertiefende Diskussion dazu bleibt bisher aus.


Erstaunlich: Ein Kanzler fliegt nach Berlin, um sich bei der größten Pandemie-Eminenz, dem Virologen - aber nicht Epidemiologen - Christian Drosten, persönlich zu informieren, wie es weitergeht. Nach dem Gespräch mit dem berufenen Mund, die gute Nachricht: Covid-Impfungen wirken auch gegen die neue Variante Delta. So was kann man erst sicher wissen, wenn man mit dem berufenen Mund in Berlin gesprochen hat, weil es dafür weder in Österreich berufene Münder noch in der wissenschaftlichen Literatur glaubwürdige Aussagen gibt. Das Ganze erinnert ein bisschen an eine Reise zum Orakel nach Delphi.

Weiters dürfen wir erfahren, dass es Unsinn sei, dass man aus Fehlern des vergangenen Sommers lernen könne. Die Pandemie komme in Wellen und sei extrem saisonal und regional. Heißt: Der vergangene Sommer war fehlerlos, der Herbst schicksalhaft. Und nach all dem kommt dann eine merkwürdige Beschwerde des Kanzlers: Die Debatte über die Corona-Entwicklung werde in Österreich viel zu oberflächlich geführt.

Das ist verwirrend, immerhin ist es das Pandemiemanagement der Bundesregierung, das eine öffentliche Diskussion moderieren sollte. Und wenn ich an die vielen Millionen Euro denke, die in die "öffentliche Kommunikation" fließen, sollte es eine solche nicht geben. Aber vielleicht hat man diese Kommunikationsmillionen in die falschen, weil unglaubwürdigen Medien gesteckt?

Klar ist: Delta ist ansteckender als Alpha (vormals: "britische Mutante") und noch viel mehr, als der Wildtyp vom Anfang. Um Herdenimmunität aufzubauen, müssten wir jetzt 85 Prozent der gesamten Bevölkerung (alle, ohne Altersgrenzen und ungeachtet der Impfbereitschaft) impfen. Praktisch ist das unmöglich. Damit wäre eine Zero-Covid-Diskussion endgültig obsolet. Delta wird sich ausbreiten, die Inzidenz wird steigen. Doch was heißt das? Werden andere Risikogruppen als bisher betroffen sein? Und sind die alle geimpft? Das wären Fragen, deren Beantwortung eine vertiefende Diskussion ermöglichen würde.

Doch niemals wurde klar kommuniziert, was die Regierung will und womit sie meint, das zu erreichen. Wild schwankt man zwischen "Schützen wir unser Gesundheitssystem" und "Zero-Covid". Und je nach Meinungsumfrage wurden diese oder jene Maßnahmen gesetzt. Daten zu sammeln und auszuwerten, um herauszufinden, ob man das Ziel erreicht hat, war mangels Ziels unnötig. Letzthin hat der oberste Simulationsforscher Niki Popper mitgeteilt, er könne in seinem Modell die Maskenpflicht nicht berücksichtigen - heißt: Wo oder ob überhaupt Masken etwas bringen, weiß keiner. Sie wurden willkürlich verordnet.

Die Infektionszahlen bei Schulkindern sinken analog zur Durchimpfungsrate der Lehrer. Kinder wurden also offenbar von Lehrern angesteckt, stecken sich aber kaum gegenseitig an, was wiederum heißt, dass der oben erwähnte Virologe mit seiner "Kinder sind am epidemiologischen Geschehen wesentlicher Treiber"- Hypothese falsch lag und liegt. Aber er ist der berufene Mund, der sagt, wie es weitergeht. Die wichtigen Fragen bleiben im Raum stehen - unbeantwortet. Und weil es praktisch keine evidenzbasierten, transparenten Entscheidungen gab und geben wird, kann eine Vertiefung der Diskussion nicht stattfinden. Also warten alle ängstlich auf die Reaktion der Regierung.