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Einäugiger Lupenblick beim Antisemitismus

Von Fritz Rubin-Bittmann

Gastkommentare

Karl Lueger und Karl Renner - zwei historische Gestalten aus der Perspektive ihrer Judenfeindschaft.


Karl Luegers Denkmal im 1. Wiener Bezirk steht im Kreuzfeuer einer massiven politischen Debatte mit der Zielsetzung des Denkmalsturzes beziehungsweise der Verunstaltung. "Cancel Culture" - die Zerstörung von Denkmälern, Monumenten, Bildern und sonstigen Herrschaftssymbolen - ist als Kampfbegriff der "Political Correctness" nur semantisch neu. Dahinter verbirgt sich der Ikonoklasmus (griechisch icon = Bild, und clamere = zerstören, vernichten), den Machthaber seit jeher einsetzten, um unliebsame Vorgänger oder Mitkämpfer ins Dunkel der Geschichte zu drängen.

George Orwell hat in "1984" exakt beschrieben, wie in totalitären Systemen die Vergangenheit permanent retuschiert und den Bedürfnissen der Gegenwart angepasst wird. 76 Jahre nach dem Sieg über Adolf Hitler wird der Kampf gegen den Nationalsozialismus von zahlreichen "Widerstandskämpfern" dadurch intensiviert, dass man Lueger zum Inbegriff des Antisemitismus macht und dessen Denkmal stürzen will. Auch, weil Hitler Lueger verehrte. Fakt ist: Lueger kannte Hitler nicht und hätte sicher den Nationalsozialismus verabscheut. Die Nationalsozialisten standen dem Rassenantisemitismus Georg von Schönerers nahe. Dieser hatte Lueger wiederholt heftigst als Judenfreund angegriffen.

Die Historiker Franz Schausberger und Johannes Schönner haben mit wissenschaftlicher Akribie - sine ira et studio - die Geschichte der Entstehung des von Josef Müllner gestalteten Lueger-Denkmals detailreich geschildert: Der damalige sozialistische Bürgermeister Karl Seitz sowie zahlreiche jüdische Publizisten, die der Sozialdemokratie nahestanden, schätzten und verehrten Lueger als bedeutenden Bürgermeister und Modernisierer Wiens. In seinem Gemeindesozialismus sah die Sozialdemokratie der 1920er ein Vorbild für das Rote Wien.

Lueger war als Bürgermeister ein typischer Repräsentant des Munizipialsozialismus (lateinisch municipium = Stadt, Sozialismus = kollektivstaatliches Eingreifen). Im Zuge der Urbanisierung und Modernisierung der Städte war man bestrebt, die Infrastruktur zum Wohle der Allgemeinheit nicht Privatfirmen, sondern den Gemeinden zu überlassen. Lueger, der ursprünglich vom Liberalismus her kam, wurde dann zum Vertreter der "kleinen Leute", die ihn als ihren Erlöser verehrten. Er vertrat die untere Mittelschicht, die unter der Industrialisierung besonders litt, und baute kommunale Infrastrukturen auf mit dem Ziel, Handwerker, kleine Gewerbetreibende und Geschäftsleute vor Monopolisten zu schützen.

Fritz Rubin-Bittmann wurde 1944 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren und überlebte als "U-Boot". Er ist Arzt für Allgemeinmedizin (2016 mit dem Berufstitel Professor ausgezeichnet) und hat zu Zeitgeschichte und Religionsphilosophie publiziert.
© Parlamentsdirektion / Johannes Zinner

Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen, besuchte als begabter Schüler das Theresianum, wurde Advokat und liberaler Gemeindevertreter. Im 3. Wiener Bezirk, wo er seit 1876 seine eigene Kanzlei hatte, galt er als "Anwalt der kleinen Leute". Sein großes Vorbild war der beliebte jüdische Bezirkspolitiker und "Armenarzt" Ignaz Mandel. Die beiden hatten eine enge persönliche und politische Verbindung. Jahre später, als Parteiführer der Christlich-Sozialen, wurden Lueger seine Judenfreundschaften vorgeworfen. Seine bekannte Antwort: "Wer ein Jud’ ist, bestimme ich."

Als Kind seiner Zeit war er ursprünglich dem katholischen Antisemitismus verbunden. Dessen Entwicklung war in Österreich national, religiös und politisch geprägt. August Rohlings Buch "Der Talmudjude" (1871) hatte darauf großen Einfluss. Rohling beschuldigte Juden des Ritualmordes. In einem aufsehenerregenden Prozess, den er gegen den jüdischen Gelehrten und Rabbiner Joseph Samuel Bloch verlor, wurde er zu einer symbolischen Geldstrafe von einem Gulden verurteilt.

Auf dem linken Auge blind

Mit dem Auftreten der Alldeutschen unter Schönerers Führung, der seit 1873 im Parlament saß, wurde der Rassenantisemitismus zum Parteiprogramm erhoben. Schönerer bekämpfte das Judentum, das Haus Habsburg und die katholische Kirche und war ein fulminanter Anhänger der Hohenzoller. Er fand großen Widerhall bei Burschenschaftern und Akademikern, jedoch nicht in der Bevölkerung. Dennoch gab es nach der Wahl 1891 schon 13 Antisemiten im Parlament, und der niederösterreichische Landtag hatte gar eine antisemitische Majorität. Schönerers Leitspruch lautete: "Gegen Juda, Habsburg und Rom bauen wir den deutschen Dom." Und über assimilierte und konvertierte Juden sagte er: "Was der Jude glaubt, ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei."

Die Juden galten freilich seit jeher in der christlichen Gesellschaft als "Gottesmörder" und erklärte Feinde der Christenheit. Wiener Hetzkapläne und rabiat anti-jüdische Kirchenblattredakteure propagierten diesen Hass. Im Reichsrat und später im Parlament der Ersten Republik gab es wiederholt wüste Judendebatten, unter deren Rednern Karl Renner als ausgewiesener Judenfeind hervortrat. Rabiat und flegelhaft beschimpfte er die Juden, was eine jüdische Zeitung monieren ließ: "Anscheinend können Antisemitismus und Sozialismus Hand in Hand miteinander gehen." Der jüdische Sozialdemokrat Franz Kronawetter prägte das Wort vom "Antisemitismus als Sozialismus des kleinen Mannes". Renners Antisemitismus wird von Vertretern der "Cancel Culture" eskamotiert. Sie messen Luegers und Renners Antisemitismus mit zweierlei Maß: Auf dem linken Auge blind, schauen sie mit dem rechten Auge durch eine Lupe.

Luegers Leistungen für Wien

Lueger war ein Charismatiker, charmant und jovial, ein Wiener Volkstribun, der den präexistenten Antisemitismus in der Bevölkerung benutzte, um politische Ziele zu erreichen. Er war eines der wichtigsten Gründungsmitglieder der Christlich-Sozialen als moderner Massenpartei und deren signifikante Führergestalt. Hitler bewunderte seine politischen Fähigkeiten und vor allem seine gute Beziehung zur katholischen Kirche, die Schönerer fehlte. Kaiser Franz Joseph allerdings, der jeden Radau-Antisemitismus verabscheute, lehnte Luegers politische Erfolge ab. Außerdem war er auf seine große Popularität eifersüchtig - Lueger war bei den Wienern beliebter als der Kaiser. Selbst kaisertreu, versuchte er das Österreichertum gegen den Deutschglauben in der Studentenschaft zu verteidigen und wurde zum Feindbild der Rassenantisemiten um Schönerer.

Als Bürgermeister (1897 bis 1910) machte er Wien zu einer der großen Metropolen Europas. Er realisierte zahlreiche kommunale Großprojekte, etwa die zweite Wiener Hochquellenwasserleitung, kommunalisierte Gas- und Stromversorgung und die Straßenbahnen. Er war im sozialen Bereich engagiert, das Versorgungsheim Lainz und die Psychiatrie Steinhof wurden unter ihm errichtet. Eines der schönsten Denkmäler hat ihm Stefan Zweig in "Die Welt von Gestern" gesetzt, in voller Kenntnis seiner politischen Ambivalenzen und Ambiguitäten:

"Karl Lueger war eine imposante Erscheinung - ,der schöne Karl‘ im Wiener Volksmund genannt (...) Er konnte populär sprechen, war vehement und witzig, aber selbst in den heftigsten Reden überschritt er nie den Anstand (...) Gegen seine Gegner bewahrte er - unanfechtbar und bescheiden in seinem Privatleben - immer eine gewisse Noblesse, und sein offizieller Antisemitismus hat ihn nie gehindert, seinen früheren jüdischen Freunden wohlgesinnt und gefällig zu bleiben. Als er (...) zum Bürgermeister ernannt wurde, blieb seine Stadtverwaltung tadellos gerecht und sogar vorbildlich demokratisch; die Juden, die vor diesem Triumph der antisemitischen Partei gezittert hatten, lebten ebenso gleichberechtigt und angesehen weiter."

Renner und die Nazis

Ein Wunder, dass die "Cancel Culture" nicht diese Darstellung ebenfalls auslöschen will. Übrigens schätzte auch Felix Salten Lueger und beschrieb ihn als wichtigste Persönlichkeit in den letzten Dezennien des alten Österreichs. Interessant ist, dass sich die Feindschaft jener, die das Lueger-Denkmal als Symbol des Antisemitismus beseitigen wollen, nicht auch gegen Renner und dessen Büste am Ring richtet. Dabei war Renner im Gegensatz zu Lueger nicht aus opportunistischen Gründen Antisemit, sondern die Judenfeindschaft war ein wesentliches Merkmal seines Charakters. Auch nach der Schoah hielt er im Parlament antisemitische Reden und war ohne Mitleid für die sechs Millionen ermordeten Juden. Überlebende jüdische Sozialdemokraten forderte er auf, im Exil zu bleiben, da man sie in Österreich nicht brauche.

Renner verherrlichte Hitler und den Nationalsozialismus und betrieb eine "Anschluss"-Propaganda für Hitler-Deutschland. Er war ein Opportunist par excellence und wurde bereits 1917 von Friedrich Adler mit einem treffenden Bonmot charakterisiert: "Renner ist der Lueger der Sozialdemokratie." Renner denunzierte auch Menschen und begrüßte den Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei, wohl wissend, dass dieser Verfolgung und Vernichtung von etwa 20.000 geflüchteten Sozialdemokraten zur Folge haben würde, darunter nicht nur jüdische Sozialdemokraten, sondern auch deklarierte Gegner des Nationalsozialismus. Das Schicksal jüdischer Parteigenossen war ihm offenbar egal.

Moderner Antisemitismus

Ende Mai 2021 mieden viele Juden am Schabbat den 1. Bezirk wegen antisemitischer und Israel-feindlicher Parolen. In der Gegenwart geht die größte Gefahr von Hetzreden und Parolen wie "Tötet die Juden, vernichtet Israel" aus. Es ist leicht, 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus aufzutreten und dabei heutigen muslimischen Antisemitismus zu bagatellisieren. Es ist ein Tabuthema. Es wäre wichtig, gegen diesen neuen Antisemitismus mit jenen Energien anzukämpfen, die gegen Lueger verschwendet werden. Muslimische Judenhasser kennen weder den Namen Lueger noch wissen sie, wer er war. Sehenden Auges blind für das zu sein, was sich gegenwärtig abspielt, erinnert an die 1930er Jahre, als man die politischen und gesellschaftlichen Gefahren nicht rechtzeitig erkannte.

Vor kurzem feuerte die Terrororganisation Hamas rund 4.000 Raketen auf den Staat Israel, die einzige Demokratie in Nahost. Das Ziel war die Vernichtung Israels. Es ist leicht, Demos gegen Lueger, der 1910 starb, zu organisieren. Und es ist leicht, sich für tote Juden in Gedenkfeiern zu engagieren. Aber die Mehrzahl dieser "Freunde der ermordeten Juden und Kämpfer gegen Hitler" ist indifferent, wenn der Staat Israel und die dort lebenden Juden vernichtet werden sollen. Statt Krokodilstränen und Lippenbekenntnissen wären Humanität und Zivilcourage gefragt.

Judenfeindschaft und Antisemitismus sind heute salonfähig. Zu Unrecht repräsentieren sich militante Gruppen der "Cancel Culture" gegen Lueger als Inbegriff des Antisemitismus. Renners Antisemitismus ist für sie aber tabu. Ihre Halbwahrheiten ergeben nicht die Wahrheit. Sie führen zu Geschichtsklitterung, Verfälschung, Zerstörung der Erinnerungskultur - kurz: zu historischer Amnesie. In diesem Sinne ist der Vorschlag des Historikers Oliver Rathkolb - selbst ein überzeugter Sozialdemokrat, aber an wissenschaftlicher Objektivität orientiert -, den Dr.-Karl-Renner-Ring in Parlamentsring umzubenennen, eine ausgezeichnete Idee.