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Notenvergabe in der Durchschnittsfalle

Von Sabine M. Fischer

Gastkommentare
Sabine M. Fischer, Inhaberin von Symfony Consulting, ist Wirtschaftspädagogin, Human-Factor-Unternehmensberaterin und Sprecherin des AK Industrie 4.0/IoT in Wien. Mitte Mai wurde sie zudem zur Aufsichtsratsvorsitzenden des Verbands der österreichischen Wirtschaftsakademiker (VÖWA) gewählt.
© Symfony / Klaus Prokop

Schule ist kein Selbstzweck. Leistung braucht Investition in den Unterricht. Sonst ist die wirtschaftliche Entwicklung Österreichs in Gefahr.


Im heurigen Mai wurde ein seit Einführung der Zentralmatura bestehendes Problem gelöst: Die Mathematik-Maturanoten entsprechen endlich österreichweit der Gauß’schen Normalverteilung: keine Ausreißer mehr nach oben (zu viele "Sehr gut") oder nach unten (zu viele "Nicht genügend"). Der Durchschnitt wurde erreicht, ohne dem zweiten Corona-Maturajahrgang etwas zu schenken, wie sich der Bildungsminister mithilfe seiner Ehefrau überzeugen konnte.

Problem gelöst. Aber welches genau? Besteht das Ziel eines Schulsystems wirklich nur darin, dass Kinder und Jugendliche "die Schule schaffen" und die Noten der Gauß’schen Normalverteilung entsprechen? Beachtenswerterweise antwortete der Arbeitsminister vor einigen Wochen auf den Hinweis, dass ein Viertel aller Pflichtschulabsolventen in Deutsch nicht ausreichend lesen, schreiben und rechnen können, sinngemäß so: "Es geht darum, dass Jugendliche die Schule abschließen können."

Und was kommt danach?

Prüfen Sie selbst und entscheiden Sie, mit welchem Piloten Sie mit Ihrer Familie über den Atlantik fliegen wollen:

Der Pilot zeigt Ihnen alle Zertifikate, kann aber die Bordcomputer nicht bedienen und versteht kein Englisch.

Der Pilot hat keine Zertifikate, kann aber die Bordcomputer bedienen und spricht gut Englisch.

Als Unternehmerin, als Lektorin an Hochschulen und als Kundin eines renommierten Autoherstellers verlasse ich mich auf Menschen, die lesen, schreiben und rechnen können und Fachwissen haben: Wenn die Bremsen meines Autos aufgrund fehlerhafter Berechnungen versagen und ich verunfalle, nützen mir Zertifikate genau gar nichts. Abschlusszeugnisse, die praxisrelevantes Können und Fähigkeiten von Menschen falsch darstellen, helfen mir in unserer arbeitsteiligen Wirtschaft überhaupt nicht weiter.

Außerdem brauche ich zur unternehmerischen Entwicklung Menschen, die nachdenken, hinterfragen und reflektieren können.

Das alles kann man niemandem so einfach von jetzt auf gleich beibringen, da steckt viel ressourcenintensive Arbeit dahinter: Benötigt werden Zeit, Raum und Know-how und - je schwieriger die Lebenssituation von Menschen wird - sehr viel Beziehungsarbeit, individuell und in überschaubaren Gruppen. Das alles ist nicht billig. Werden aber diese Investitionen nicht getätigt, dann wird es für Unternehmen so richtig teuer: Große Konzerne kompensieren die Nicht-Leistung des Bildungssystems durch eigene Schulungsmaßnahmen. Kleine und mittlere Betriebe - immerhin 98 Prozent der österreichischen Wirtschaft - bezahlen mit Stillstand: Mangels guter Leute können sie viele Aufträge gar nicht annehmen, und die digitale Transformation bleibt eine unüberwindbare Herausforderung. Im hochkompetitiven globalen Umfeld benötigen Unternehmen engagierte Mitarbeitende mit Know-how. Dagegen repräsentiert die Diskussion um die Noten die Durchschnittsfalle, in der die Zukunft Österreichs festsitzt. Auch das hat diese Corona-Matura verdeutlicht.