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Pflege ganz neu denken

Von Alexandra Prinz

Gastkommentare

Das deutsche Urteil und das problematische System in Österreich.


Das jüngste Urteil des Deutschen Instituts für Menschenrechte zu einer fairen Bezahlung der 24-Stunden-Betreuungskräfte wirft auch in Österreich ein neues Licht auf die Baustelle Pflege. Die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen der 24-Stunden-Betreuerinnen sind in Österreich im Jahr 2007 ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, als publik wurde, dass die Schwiegermutter des damaligen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel (ÖVP) von einer osteuropäischen Betreuungskraft betreut wurde. Man darf annehmen, dass ein österreichischer Bundeskanzler über finanzielle Mittel verfügt, die ihm auch andere Möglichkeiten geboten hätten. Für viele andere ist allerdings trotz der öffentlichen Förderungen selbst diese Pflegeform nicht leistbar. Zudem muss man über ausreichend großen Wohnraum verfügen, was angesichts der steigenden Mieten für Menschen mit geringen Pensionen ein zusätzliches Hindernis ist.

Fakt ist, dass das deutsche Urteil ein wichtiges Thema aufgreift, vor dem kein europäisches Land verschont ist: die kontinuierliche Überalterung der westlichen Gesellschaften bei gleichzeitigem Ausbleiben jüngerer Arbeitskräfte, vor allem auch solcher, die Pflege- und Sorgearbeit unter den allseits bekannten Bedingungen leisten. Die österreichische Bundesregierung hat unter Gesundheitsminister Rudolf Anschober eine Pflegereform versprochen, die bis heute nicht umgesetzt wurde. Dazwischen kam eine Pandemie, die Pflegekräfte wurden mit einer 500-Euro-Prämie abgespeist. Keine Rede davon, dass man das Gehalt in allen Settings (Krankenhaus, Pflegeheim, mobile Dienste, Sanitäter, Assistenzberufe etc.) im Gesundheits- und Sozialbereich um 20 bis 30 Prozent erhöhen muss, um die Verantwortung und die Leistung entsprechend abzugelten. Dass dies möglich ist, zeigt das Beispiel Finnland, wo im Jahr 2007 tausende Pflegekräfte mit Massenkündigung drohten und damit eine Gehaltserhöhung von 20 Prozent erwirkten.

Professionelle Pflegewird ausgehungert

Das Pflegesystem in Österreich ist von Grund auf neu zu denken. Die Lösung mit den osteuropäischen Betreuerinnen ist eine Notlösung, die das gesamte Pflegewesen qualitätsmäßig und finanziell nach unten nivelliert hat. Trotzdem ist das Pflegewesen auf diese Form der modernen Ausbeutung angewiesen. Pflegebedürftige Menschen sind keine relevante Wählerklientel. Ihre Bedürfnisse werden politisch kaum wahrgenommen. Pflegekräfte ihrerseits werden in ihren Curricula weder über Empowerment, politische Bildung oder Anwartschaft für Pflegebedürftige geschult, geschweige denn, dass sie Zeit hätten, sich für ihre eigenen Bedürfnisse und die der Pflegebedürftigen gesellschaftlich und politisch einzubringen. Dasselbe gilt für die wichtige Arbeit der pflegenden Angehörigen und auch jener der 24-Stunden-Betreuerinnen, denen es allzu oft an sprachlichen und rechtlichen Kenntnissen mangelt.

Das Resultat ist bekannt: Professionelle Pflege wird ausgehungert, weil zu teuer, freiberufliche Pflege mit fachspezifischen Leistungskatalogen und Direktverrechnung mit der Sozialversicherung ist bis dato inexistent. Die Pflege funktioniert derzeit, weil 70 Prozent der Pflegebedürftigen von Angehörigen gepflegt werden, zahlreiche Beschäftigte in den Pflege- und Betreuungsberufen Migrationshintergrund aufweisen - und weil das Lohnniveau in Osteuropa immer noch so niedrig ist, dass sich für die 24-Stunden-Betreuerinnen die Arbeit im Ausland lohnt.

Moralisch ist der Status quo höchst fragwürdig: Man wollte in der Pandemie um einen hohen Preis vor allem die vulnerablen Gruppen (ältere Menschen, Pflegebedürftige) schützen - jetzt hat man keine finanziellen Mittel mehr, um den Lebensabend von Pflegebedürftigen professionell, anständig honoriert, mit ausgezeichneten Arbeitsbedingungen und qualitativ hochwertig zu finanzieren. Ist das die Conclusio post Corona?