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Die Morgenröte nach Corona

Von David Sailer

Gastkommentare

Wie soll die Veranstaltung des Lebens nach dieser Pandemie aussehen?


Öffnungen signalisieren Aufbruchsstimmung, wie ein langersehnter Auftakt zur Eröffnung von Leben. Doch im Schlagschatten der Markisen von Straßencafés, Bistros und Dachterrassen harren eine nebulose Grundgespanntheit und eine fatale Fremde. Und so fragen wir uns: Wie soll die Veranstaltung des Lebens nach dieser Pandemie aussehen?

Die vergangenen Monate ließen uns den gesamten Horizont des Zumutbaren durchmessen. Am Ausfluss dieses pandemischen Mündungsdeltas, im Fallen der Beschränkungen unseres Soziallebens, scheinen die Diskrepanzen brüchigen Zeitempfindens und entzogener Aktivität erst greifbar. Ein Gefühl gestohlener Lebenszeit trifft auf Empfindungen geraubter Planungs- und Zukunftshorizonte. Flüchtige Entrücktheit von Gekanntem und gefühlsweltliche Distanzierung kulminieren in einem mitunter überaus merkwürdigen Phantom der Entfremdung.

Allein, die nachfolgenden Zeilen behandeln nicht etwa - wie dies der Untertitel dieses Gastkommentars vielleicht suggerieren würde - eine Eventisierung des Freizeiterlebens im Sinne einer "Gesellschaft des Spektakels" (Zitat Guy Debord). Denn die Veranstaltung des Lebens ist weder Schauspiel noch Fest und scheint dennoch in erster Linie Vergesellschaftung, Geselligkeit oder vergnügtes Beisammensein zu bedeuten. Näher begriffen ist es indes um den Wert all jener Einrichtungen bestellt, an denen sich Leben abspielt: also organisierte Formen der Zusammenkunft an spezifischen, klar lokalisierbaren Orten.

Anstalt - das ist zunächst das dem Ort oder der Sache nach Eingerichtete; man könnte auch sagen: das nach Regeln und Geboten Geordnete. Und so frequentieren wir aufs Neue Sport- und Bildungsanstalten, Arbeits- und Freizeiteinrichtungen, wir besuchen körpernahe Gesundheits- und Bedürfnisanstalten sowie Kunst- und Kulturstätten. Die Identität all dieser Anstalten lebt dabei von ihrer Konkretisierung.

Die Moderne - und jede Veranstaltung des Lebens in dieser - kannte seit Jahrhunderten nur ebenjene fortschreitende Territorialisierung des Soziallebens; hingegen ist ihr dieses Leben mit Abstand das Absonderlichste. In Ermangelung konkreter Ver-Anstaltungsmöglichkeiten bestimmter Bedürfnisse begannen sich selbige schlicht zu veröffentlichen und traten zuletzt zwischen An-Massung und partiell empfundener Anmaßung im öffentlichen Raum zutage.

Unter der Maske der Tragödie, im Spannungsverhältnis aus Kasteiung und Kasernierung, hat die Pandemie beides - die Interaktion des Soziallebens und die dafür vorgesehenen Orte - voneinander abgetrennt. Diese aus zu viel Abstand erwachsende Kluft muss als innergesellschaftliche Lücke konstruktiven Austausches empfunden werden. Wo immer persönliche Interaktion zum dämmerstillen Monolog wird, wo das Inter-, also jenes Zwischen aus Dialog und Diskurs, verloren geht, dort leben wir nicht auf Distanz, sondern voneinander entrückt. Empfinden wir womöglich auch deshalb diese verzagte Erschöpfung, Abgeschlagenheit und teils verkrochene Sinnlosigkeit?

Wie ein Lebenim Interregnum

Es heißt, wir seien ermüdet, ausgelaugt und gar kraftlos geworden. Doch ist dies keine Ermattung aus individueller Schwäche, sondern vergleichbar mit der Erschöpfung eines Marathonläufers. Wir sind erschöpft vom Durchhalten und Aushalten; erschöpft davon, festzuhalten und standzuhalten. Doch erlahmt und erniedrigt sind wir nicht. Am Scheideweg, jener Schwelle der Lockerungen, stellt sich die Grundfrage dieses post-pandemischen Anbruchs: Ist dies tatsächlich ein Leben im Danach - oder nur eines im temporären Dazwischen?

Gegenwärtig verharren wir im Warteraum des Lebens, sehnen uns nach Sicherheit und suchen die Freiheit; wir hoffen auf Stabilität, wünschen uns mehr Planbarkeit für die Zukunft und fürchten doch, es könne sich nicht ausgehen. Unter Umständen hat diese Existenzweise den Beigeschmack eines Interregnums, eines Lebens "bis auf Weiteres". In diesem Zustand des Erratischen zwischen Flüchtigkeit und Ambivalenz geht es kaum um Selbstbewusstsein.

Vielmehr muss man das eigene Selbst bewusst halten und - mit Zenon von Kition gesprochen - nach einer Einstimmigkeit von Können und Wollen streben. Jedwede "fear of missing out" sollte daher weniger als diffuse Angst des Event-Verpassens, sondern im Lichte der Besorgnis, auf der Stufenleiter des Abgehängt-Werdens nach unten abzurutschen, gelesen werden. Und zwar in allen sozioökonomisch-kulturellen Lebensbelangen und quer durch die verschiedenen Sinusmilieus und Altersgruppen.

Unbezwungen, nicht unbeschwert leben

In dieser Grundstimmung erscheint eine unerschütterliche Kontenance relevanter denn je. Erschütternd präzise verfasst, hallt uns aus der Ferne des viktorianischen Stoizismus das Gedicht "Invictus" von William Ernest Henley (1849 bis 1903) entgegen. "Invictus" - das bedeutet primär unerniedrigt oder unbezwungen; etymologisch spiegelt sich darin zugleich der lateinische Begriff "victus", für Lebensweise, wider. Gewissermaßen eine Selbstanforderung und Methode zur Lebensführung, vielleicht gar zur Veranstaltung dieses Lebens. Präzision und Fokus in der Veranstaltung des (je eigenen) Lebens rücken dieses ins Nahefeld einer spezifischen Haltung. Folglich sollte unsere Grundeinstellung in diesen Zeiten wohl eher eine der Unbezwungenheit und keine der Unbeschwertheit sein. Denn wir sind belastet von allem, dessen wir verlustig gingen; und noch durchfühlen wir die Schwere dieses Verlustes.

Das Gewicht der je eigenen Existenz mitzunehmen, heißt jedoch auch, es als Aufgabe, die das Leben an einen stellt, mithin als Selbstverpflichtung anzunehmen. Im Sinne der Gemeinwohlausrichtung ist es immer noch um die resiliente Tatkraft, Selbstbeherrschung und Gelassenheit bestellt, auszuhalten, was nicht zu ändern ist - allerdings zu ändern, was nicht auszuhalten ist. Analog geht es nicht um die eigene unbeschwerte Leichtigkeit in schweren Zeiten, sondern um die unerniedrigte Ausrichtung auf einander und die integre Aufrichtung aneinander. Und das Leitwort dieser post-pandemischen Groteske und Veranstaltung des Lebens? Nun, womöglich lautet es ja: "Invictus" - nicht unbeschwert, aber unbezwungen leben.