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Eine lustlose Formübung

Von Peter Hilpold

Recht
© stock.adobe.com / Proxima Studio

Die neuen Rechtsstaatlichkeitsberichte für alle 27 EU-Mitgliedstaaten liegen vor.


Gleich wie im Vorjahr haben die EU-Berichte zur Rechtsstaatlichkeit eine Vielzahl an Reaktionen ausgelöst. Auf EU-Ebene galt das Hauptaugenmerk den "Renegaten der Rechtsstaatlichkeit", Polen und Ungarn: Die betreffenden Berichte brandmarken die Verfehlungen dieser Staaten im Detail. Diese Kritik ist durchaus von Gewicht, auch unmittelbar für diese beiden Staaten, sind doch mittlerweile der mehrjährige EU-Haushalt und die Wiederaufbauhilfe an die Rechtsstaatlichkeitskonditionalität gebunden. Zwar sind Wirkungsweise und Anwendungsbedingungen dieser Konditionalität noch in vielem unklar, doch allein die Möglichkeit, Milliardenzuwendungen von der Einhaltung EU-weit formulierter Regeln abhängig zu machen, treibt die Souveränisten auf die Barrikaden.

Beim Bericht zu Österreich sticht schon auf den ersten Blick ins Auge, wie unterschiedlich er von den einzelnen Gruppierungen - je nachdem, ob sie in der Opposition oder der Regierung sind - gelesen wird. Demgemäß wird das Glas auch jeweils als halbleer oder als halbvoll gesehen. Der Bericht knüpft am Vorjahresbericht an und schreibt ihn fort. Kritisiert werden das System der Parteienfinanzierung und die geringen diesbezüglichen Kontrollrechte des Rechnungshofs. Weitere Kritik gilt der geringen Transparenz in Bezug auf die Einkommens- und Vermögenssituation der Parlamentarier sowie der bisher völlig unzureichenden Umsetzung der Empfehlungen der Greco-Antikorruptionseinrichtung des Europarats in Bezug auf die Bekämpfung von Korruption bei Parlamentariern, Richtern und Staatsanwälten. Der Bericht äußert Sorge in Bezug auf Transparenz und Fairness der Medienfinanzierung durch die Regierung.

Medienfinanzierung und Korruptionswahrnehmung

Gleichzeitig lobt er das relativ geringe Maß an gefühlter Korruption gemäß dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International. Man finde den Fehler. Es handelt sich eben nur um einen Wahrnehmungsindex, und dass möglicherweise ein Zusammenhang zwischen Medienfinanzierung und Korruptionswahrnehmung besteht, ist zumindest denkbar, wird aber im Bericht nicht weiter thematisiert.

Ambivalent auch die Äußerungen zur Unabhängigkeit der Justiz: Auch hier verweist der Bericht auf die in Österreichs Öffentlichkeit wahrgenommene Unabhängigkeit der Justiz - und das Ergebnis fällt wiederum sehr positiv aus. Gleichzeitig wird auch kurz über die Bemühungen berichtet, eine unabhängige Bundesstaatsanwaltschaft zu schaffen, wobei ein diesbezüglicher Gesetzesvorschlag erst 2022 zu erwarten sei. Der Bericht mahnt die Einhaltung europäischer Standards für die Garantie der Unabhängigkeit dieser zukünftigen Behörde ein.

Kritisiert werden auch die hohen Verfahrenskosten in Österreich, die einen wirksamen Zugang zu den Gerichten beeinträchtigen. Das noch nicht in Kraft befindliche Informationsfreiheitsgesetz wird erwähnt und dabei auch auf die Kritik von NGOs verwiesen, die das Fehlen einer autonomen Aufsichtsbehörde zu dessen Durchsetzung bemängeln. Kritisiert wird auch, dass einige in Korruptionsfällen ermittelnde Staatsanwälte "mit negativen Narrativen einiger Politiker konfrontiert" seien.

Bei der EU-Kommissionin den richtigen Händen?

Insgesamt können in diesem Bericht durchaus positive Anhaltspunkte für weitere Reformmaßnahmen gefunden werden, wobei insbesondere an die Intensivierung der Bemühungen zur Schaffung einer unabhängigen Bundesstaatsanwaltschaft, an die Senkung der Verfahrenskosten und an eine Neukonzeption der Medienförderung zu denken wäre.

Gleichzeitig kann man sich aber erneut nicht des Eindrucks erwehren, dass der gesamte Bericht an der Oberfläche bleibt. Was im vorjährigen Kommentar als lustlose Formübung bezeichnet wurde, charakterisiert im Wesentlichen auch den diesjährigen Bericht. Aufmerksamkeit und Interesse lagen im Wesentlichen wohl anderswo. Und dies sollte zu grundsätzlichen Überlegungen führen, ob diese Berichtstätigkeit in dieser Form fortgeführt werden soll und bei der EU-Kommission in den richtigen Händen liegt.

Die Prüfung einer so wichtigen Frage wie der Rechtsstaatlichkeit allein der EU-Kommission zu überantworten, bringt Vorstellungen zum Ausdruck, die dem geltenden EU-Recht wohl nicht mehr gerecht werden. Man darf nicht vergessen, dass die EU-Kommission in vielem auch Partei ist und gerade auch bei der Wahrnehmung ihrer Funktion als "Hüterin der Verträge" über einen äußerst weitreichenden Handlungsspielraum verfügt, den sie regelmäßig nach politischen Gesichtspunkten nutzt. Das ist ihr gutes Recht, prädestiniert sie aber nicht zur Kontrolle über die Rechtsstaatlichkeit, die eine quasi-judizielle Überprüfung voraussetzt, auch wenn sie natürlich auch politischen Maßstäben gerecht werden muss.

EU-Parlament und weitere Institutionen einbeziehen

Dieser so wichtige Mechanismus sollte auf eine breitere Basis gestellt werden und auch unter Einbeziehung des EU-Parlaments und weiterer Institutionen, etwa der Bürgerbeauftragten, zur Anwendung kommen. Die Berichte müssen detaillierter gestaltet und näher ausgeführt werden und auch auf nationaler Ebene mehr Stakeholder einbeziehen (in diese Richtung verweist auch zu Recht die Kritik von Verfassungsministerin Karoline Edtstadler).

Wie ist es etwa möglich, dass in Österreich ein § 35c StAG fortbesteht, der es den Staatsanwaltschaften de facto freistellt, keine Ermittlungen zu führen, wenn das Fehlen eines Anfangsverdachts behauptet wird, was aber nicht näher begründet werden muss, und dass dem Opfer diesbezüglich kein Rechtsmittel zur Verfügung steht? Was ist zur - teils sogar begründungslosen - Nichtvorlage beim EuGH zu sagen, selbst wenn klare EU-Auslegungsfragen angesprochen werden? Wie gedenkt man das Problem der äußerst niedrigen Zulässigkeitsrate von Beschwerden beim EGMR (ca. 5 Prozent) anzugehen? Letzteres wäre von EU-weiter Dimension, hat aber sicher in Österreich besondere Relevanz.

Die Literaturliste zum Bericht zeigt, dass er ganz wesentlich auf einer Vielzahl online verfügbarer Zeitungsartikel beruht. Das wäre sogar für eine universitäre Seminararbeit problematisch. Von einem EU-Rechtsstaatlichkeitsbericht darf und muss man sich auf jeden Fall mehr erwarten.

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