Zum Hauptinhalt springen

Des Menschen Rechte und Pflichten

Von Manfried Welan

Gastkommentare
Manfried Welan ist seit 50 Jahren Verfassungspolitologe. Er war unter anderem in den 1980er Jahren Gemeinderat und Landtagsabgeordneter der ÖVP in Wien, Stadtrat und Dritter Landtagspräsident.
© Christoph Gruber / c.gruber@boku

Erinnerungen an Hermann Broch, der heuer 135 Jahre alt würde und vor 70 Jahren starb.


Er war der große Polyhistor der "Welthauptstadt des Geistes". Auf Wunsch des Vaters absolvierte Hermann Broch (1886 bis 1951) eine textiltechnische Ausbildung, wurde Textilingenieur, Direktor in der väterlichen Firma, Mitglied der Industriellenvereinigung. Er war aber auch ein geistvoller Mensch, studierte Mathematik, Philosophie, Psychologie, Politik. Aber er gehörte keinem politischen Lager an. Daher nimmt ihn auch keine Partei für sich in Anspruch. Er war auch unter den Großen ein Einzelner.

Eindrucksvoll sind auch Brochs Bücher, etwa sein Roman "Der Tod des Vergil" (1945): "Stahlblau und leicht, bewegt von einem leisen, kaum merklichen Gegenwind, waren die Wellen des adriatischen Meeres dem kaiserlichen Geschwader entgegengeströmt, als dieses, die mählich anrückenden Flachhügel der kalabrischen Küste zur Linken, dem Hafen Brundisium zusteuerte, und jetzt, da die sonnige, dennoch so todesahnende Einsamkeit der See sich ins friedvoll Freudige menschlicher Tätigkeit wandelte, da die Fluten, sanft überglänzt von der Nähe menschlichen Seins und Hausens, sich mit vielerlei Schiffen bevölkerten, mit solchen, die gleicherweise dem Hafen zustrebten, mit solchen, die aus ihm ausgelaufen waren, jetzt, da die braunsegeligen Fischerboote bereits überall die kleinen Schutzmolen all der vielen Dörfer und Ansiedlungen längs der weißbespülten Ufer verließen, um zum abendlichen Fang auszuziehen, da war das Wasser beinahe spiegelglatt geworden; perlmuttern war darüber die Muschel des Himmels geöffnet, es wurde Abend, und man roch das Holzfeuer der Herdstätten, so oft die Töne des Lebens, ein Hämmern oder ein Ruf von dort hergeweht und herangetragen wurden."

Über seinen "Tod des Vergil" sagte Broch selbst: "Die Einheit des Gesamtlebens, einschließlich der Vergangenheit und sogar der Zukunft, in einem einzigen Gegenwartspunkt - die Gedächtnis- und Prophezeiungseinheit, wenn man sie so nennen darf - ist wohl nie so deutlich gemacht worden wie in diesem Buch." Nach dem "Zerfall der Werte", den er im Wien der zu Ende gehenden Habsburger Monarchie erlebte, analysierte und reflektierte, war es seine Absicht, in seiner Dichtung ein Wertesystem zu schaffen. Ihm ging es vor allem um das Menschenrecht. Man sagt, dass weder ein Wissenschafter noch ein Rechtsgelehrter den Begriff "Menschenrecht" prägte, sondern der Dichter Dante, der auch ein Polyhistor war. Broch verstand sich als neuer Dante und Vergil. Er wollte das Menschenrecht neu konstituieren. Er wollte "Heilsbringer" und "Dichter-Helfer" in praktischer Weise sein.

Erscheint das Menschenbild bei Franz Kafka vom hilflosen Ausgeliefertsein bestimmt, gegenüber Lieblosigkeit und Unverstandenheit im rationalen und endlichen wie gegenüber einer nur erahnbaren, niemals erreichbaren Zielgrenze, einer Fremde, Unbestimmtheit und undenklichen Ferne im Irrationalen und im Unendlichen, vom Kampf und Absolutheitsstreben trotz alledem; erscheint das Menschenbild Robert Musils bestimmt vom Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn; so erscheint es bei Broch bestimmt vom Begriff der Ebenbildhaftigkeit, den er in seiner Massenwahn-Theorie entwickelte. Der Musil’schen Utopie des induktiven Lebens entspricht bei Broch eine dieser verwandtschaftlich nahe anmutende "konkrete Utopie", wobei er allerdings bei ihrer Ausführung und näheren Bestimmung weitergelangt sei als Musil, so Joseph Peter Strelka.

Gottes Ebenbildund die Menschenrechte

Zur Ebenbildhaftigkeit finden sich bei Broch die klassischen Sätze: "Alle Politik fängt beim Menschen an. Sie wird von ihm, für ihn und oftmals gegen ihn betrieben. Um über Politik sprechen zu können, muss man eine Vorstellung von Menschen haben, sonst spricht man über eine leere Mechanik." Brochs Vorstellung vom Menschen geht vom Satz aus: "Gott schuf den Menschen von seinem Ebenbild." Er ist für ihn die Vorwegnahme der gesamten idealistischen Philosophie des Abendlandes von Plato bis Immanuel Kant. "Indem Gott den Menschen in seinem Ebenbild erschaffen hat, lässt er ihn die Weltenschöpfung unaufhörlich wiederholen, hat er der Erkenntnis dieser Schöpfungspflicht für ewig aufgetragen, vereinigte er des Menschen Kenntnis mit seiner eigenen: Und der Mensch, der solcher Art in seiner Erkenntnis Gott wiedererkannt hat, demütigt sich selber als Geschöpf des Schöpfers erkennend, erkennt damit auch die fürchterliche Pflicht zur Freiheit, die er mit seinem Schöpfer teilt."

Der Mensch könne Gottes Existenz leugnen, aber niemals, dass seine eigene deren Ebenbild sei. Mit der Erkenntnis, dass etwas Absolutes in ihm wirkt, weiß der Einzelne von der Sonderstellung des Menschen in der Natur. Denkvermögen, Ich-Bewusstsein, Bewusstsein des Zeitablaufs, des Nichts und des Unendlichen. Es ist die Autonomie des Bewusstseins, das zum Schauen und freilich auch zum Staunen führt.

Durch sein Ringen um das Menschenrecht mit praktischen Konsequenzen unterschied Broch sich auch von anderen westlichen Literaten des 20. Jahrhunderts. Keiner beschäftigte ich wie er mit Politik-, Staats-, Rechts- und Gesellschaftswissenschaften. Er war auch immer praktisch-politisch engagiert. Bereits in den 1930ern entschloss er sich zu einer politischen Resolution an den Völkerbund. Schon damals ging es ihn um eine "Neudeklarierung der Menschenrechte". Er forderte ein Gesetz zum Schutz der Menschenwürde. Im demokratischen Menschen sah er die weltliche Art des echt religiösen Menschen. Im Begriff der Anständigkeit zeigten sich für ihn die beiden Hauptkomponenten der "demokratischen Geisteshaltung": eine unschwärmerische, nüchterne Rationalität sowie der Glaube an die innerste Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt.

Es geht um eine Zivilreligion. Auch heute wird sie wieder gefordert. Wir brauchen einen Zivilglauben, der Blut und lokale Zugehörigkeit übersteigt und es den Menschen ermöglicht, sich um gemeinsame Prinzipien zu organisieren. Dieses Ziel verfolgte Hans Küng mit seinem Projekt "Weltethos" seit Jahren. Ich schlug ihn für den Friedensnobelpreis vor. Nach Broch sind Anständigkeit und Fair Play die Grundlinien der demokratischen Republik. Es gebe freilich kein absolutes Programm. Es gebe bloß tunlichst anständige, tunlichst humane Entscheidungen in den einzelnen Lebenssituationen, so Broch. Darauf baue die Fortentwicklung der Demokratie auf. Die Ebenbildhaftigkeit war sein Ausgangspunkt. Damit verbunden gibt es nur eine einzige Ethik: die der Humanität. Der Menschenrechtsbegriff muss immer wieder auf der Höhe der Zeit - das heißt: auf der Höhe des Wissens von Menschen - sein.

Versklavungen und Gräuel des 20. Jahrhunderts

Broch zeigte die verschiedenen Versklavungen auf: die politische, die ökonomische, die ideologische. Er schilderte die kurze Geschichte von der Kriegsbeute zum KZ-Sträfling und damit zur letzten Steigerung jeder Versklavung, in der der Mensch seines letzten Ich-Bewusstseins entkleidet zur Sache und Nummer wurde. Für Broch wurde die Erfahrung der Gräuel des 20. Jahrhunderts zur Neufundierung des Rechtes, "Mensch zu sein". Aus der Sonderstellung des Menschen in der Natur - die verantwortliche Freiheit unterscheidet ihn gegenüber der Kausalität und Gewalt der übrigen Welt - und als Träger seines Rechts, "Mensch zu sein", ergeben sich seine angeborenen, schon durch die Vernunft einleuchtenden Rechte: Leben, Unversehrtheit, Identität, Integrität, Namen, persönliche Freiheit, von anderen Menschen als Mensch akzeptiert, respektiert, in Ruhe gelassen, kurz: als Mensch behandelt zu werden.

Wiederholt verlangte Broch "Gesetze zum Schutz der Menschenwürde" und verlangte, die Grundrechtskataloge durch einen Grundpflichtenkatalog zu ergänzen. Die Zusprechung von Rechten allein ist leeres Papier. Er wollte eine Humanität der Weltgesellschaft, eine Gesinnung, der die Menschen als Weltzivilgesellschaft konstituiert. Er erkannte die kopernikanische Wende im Völkerrecht durch die Anerkennung der Rechtssubjektivität des Einzelnen, er erkannte aber auch, dass die Menschenrechte ohne entsprechende Exekutive der UNO nichts viel anderes als eine platonische Geste sind.

Er verlangte einen internationalen Gerichtshof als Strafgerichtshof - ein halbes Jahrhundert später hat die Staatengemeinschaft die Vorstellung Brochs durch den International Criminal Court erfüllt. Vor ihm müssen sich Einzelne wegen Angriffskriegs, Völkermords, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Aber die USA, auf die Broch so viel Hoffnung gesetzt hatte, sind außerhalb dieses besonderen Menschenrechtsrats geblieben.