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Kabul und die Stunden der Weltpolitikunfähigkeit

Von Melanie Sully

Gastkommentare
Melanie Sully ist britische Politologin und Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance. Sie hat unter anderem als Konsulentin für die OSZE und den Europarat in Straßburg gearbeitet und ist Mitglied des Royal Institute of International Affairs in London.
© Weingartner

Nach dem desaströsen Rückzug der USA wird sich Großbritannien wohl andere strategische Partner suchen.


Nicht zum ersten Mal hat die "special relationship" zwischen den USA und Großbritannien Schiffbruch erlitten: In der Suez-Krise in den 1950ern ließen die USA Großbritannien und Frankreich in ihren imperialen Ambitionen demütigend alleine. Während Frankreich sich daraufhin Europa zuwandte, war die Beziehung der Briten zu den USA von Abhängigkeit geprägt.

In London wollte man nun den neuen US-Präsidenten Joe Biden, der übrigens irische Wurzeln hat, mit Blick auf ein geplantes Freihandelsabkommen nicht irritieren. Doch der Fall der afghanischen Hauptstadt Kabul sorgte in Großbritannien quer über alle Parteigrenzen hinweg für Entsetzen über den desaströsen Rückzug der USA vom Hindukusch. Warum sollten britische Soldaten jemals wieder auf Geheiß der USA zu einem Konflikt am anderen Ende der Welt ausrücken, um dann im letzten Moment im Stich gelassen zu werden? Großbritannien wird sich also wohl andere strategische Partner suchen, etwa Australien, Japan, Kanada oder gar Deutschland und Frankreich.

Die Nato, das Fundament der westlichen Allianz, scheiterte ebenso daran, eine angemessene Antwort auf die Krise in Afghanistan zu finden. So wirkte der Generalsekretär eher hilflos gegenüber tränenreichen Hilferufen von Journalistinnen, die um ihre Arbeit und ihr Leben fürchten. Wie so oft in solchen Krisen sind es Frauen, die am meisten zu leiden haben. Es wäre übrigens höchste Zeit für eine Frau als nächste Generalsekretärin der Nato. An geeigneten Kandidatinnen aus Ländern wie Estland, Litauen, Italien oder Kroatien mangelt es dabei nicht.

Die britische Ex-Premierministerin Theresa May wurde bereits als mögliche Nato-Generalsekretärin gehandelt. In ihrer Rede im Parlament in London zur Situation in Afghanistan fand sie harsche Worte zur Nato, gepaart mit Vorschlägen zu tiefgreifenden Reformen. Als frühere Innenministerin ist May mit der internationalen Sicherheitspolitik vertraut und konnte sich in den Brexit-Verhandlungen zumindest ein Mindestmaß an Respekt bei den EU-Regierungschefs erarbeiten. Großbritannien ist überdies ein loyaler Nato-Beitragszahler. Und seine kritische Haltung gegenüber Russland verleiht ihm weitere Glaubwürdigkeit.

Trotz allem ist das Vereinigte Königreich ein gespaltenes Land mit ungewisser Zukunft. Das Risiko eines neuerlichen Konflikts in Nordirland ist vorhanden, und sollte Schottland tatsächlich eines Tages unabhängig werden, würde London seine nuklearen Marinebasen am Fluss Clyde verlieren. Die größten Verwerfungen in Post-Brexit-Großbritannien verlaufen entlang ethnischer und religiöser Linien, insbesondere in Städten mit einem hohen Anteil an Muslimen und Hindus.

Auch wenn britische Politiker nun lautstark die USA kritisieren, sind dennoch viele Briten über die Entscheidung, die Soldaten aus Afghanistan heimzuholen, im Grunde erleichtert. Viele sind dieser kostspieligen Missionen am anderen Ende der Welt überdrüssig geworden. Und innenpolitische Themen spielen für die britischen Wähler eine größere Rolle als der abstruse Slogan "Global Britain".