Zum Hauptinhalt springen

Selbstfesselung im Regierungsprogramm

Von Stefan Schleicher

Gastkommentare
Stefan Schleicher ist Professor am Wegener Center für Klima und globalen Wandel an der Karl-Franzens-Universität Graz.

Beim erst Ende 2019 konstruierten Regierungsprogramm wird in zentralen Bereichen schon Patina sichtbar.


Ein Regierungsprogramm ist nicht unähnlich einem Ehevertrag: Wenn in der Partnerschaft die ersten Risse auftreten, beginnt das Blättern und das Suchen, ob nicht mit dem Vertragstext das eigene Interesse durchsetzbar wäre. Dafür ist auch der Zeitpunkt für das Programm dieser Bundesregierung gekommen.

Überraschungen bis Kuriositäten sind dabei zu entdecken: Österreich zur Wasserstoffnation Nummer eins zu machen, allen 15- bis 20-Jährigen eine Woche Brüssel-Erfahrung zu ermöglichen, den Begriff "Stocken des Verkehrs" klarzustellen, die Behördenstruktur für Paragleiten bis Modellflug beizubehalten sowie in Österreichs Küchen einen täglichen Klimateller anzubieten.

In die nächste Kategorie fallen gut gemeinte, aber nicht ausreichend überlegte Vorhaben. Beispielsweise klemmt aus vorhersehbaren Gründen das im Regierungsprogramm angekündigte österreichweite 1-2-3-Ticket, nun in Klimaticket umbenannt. Die Strukturierung des Tickets nach Bundesländern reflektiert nicht die Struktur der Verkehrsströme und die Kompetenz bei regionalen und kommunalen Verkehrsangeboten. Die oberösterreichweite Karte ist deshalb nur mit Aufpreis für den Stadtverkehr in Linz, Wels und Steyr zu haben. Alternative oder Ergänzung zum Klimaticket wäre ein auf Smartphone-Apps basierendes flexibles Ticketing wie FAIRTIQ. Dabei wird basierend auf der Intensität der Nutzung und der Wegstrecke der Fahrpreis nach dem Bestpreis-Prinzip elektronisch abgerechnet.

Eine weitere Kategorie im Regierungsprogramm sind Gesetzesvorhaben, die eine Scheuklappenperspektive reflektieren. Dies wird etwa im Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz sichtbar. Dessen zentrale Absicht ist die Bereitstellung der gesamten Elektrizität bis 2030 aus erneuerbaren Energiequellen. Schon der Gesetzestext zeigt, dass dies nur mit Einschränkungen möglich ist. Alle fünf Minuten müsste dafür eine PV-Anlage installiert werden, jede Woche zwei Windturbinen und bis 2030 die Wasserkraftkapazität von fünf Donaustufen wie die Freudenau. Die dafür notwendigen Flächen und Behördenverfahren lassen das Ausbauziel als illusorisch erscheinen.

Dem Makel einer Scheuklappenperspektive ausgesetzt ist auch das im Regierungsprogramm wohl angekündigte, aber noch nicht als Begutachtungsentwurf sichtbare Energieeffizienzgesetz. Die hier abzuleitenden Absichten reflektieren nicht ausreichend die Bedeutung und Dringlichkeit dieses Gesetzes. Bis 2030 müsste für die angekündigten Klimaziele der gesamte Energieverbrauch um mindestens ein Viertel reduziert werden. Nicht erkennbar ist im Regierungsprogramm der dafür erforderliche radikale Umbau des Gesetzes, der etwa neue Kooperationen mit Großverbrauchern, wie Wohnbauträgern und Busflotten, sucht. Kräftige Innovationsimpulse könnten von einem speziell für Energieeffizienz eingerichteten Fonds ausgehen.

Beim erst Ende 2019 konstruierten Regierungsprogramm wird in zentralen Bereichen schon Patina sichtbar. Statt in der Selbstfesselung eines mit Mühe verabschiedeten Programms zu verharren, wäre eine bewusste Verabschiedung jener Konzepte angebracht, die ihr Ablaufdatum erreicht haben.

So eine Wirtschaft: Die Wirtschaftskolumne der "Wiener Zeitung". Vier Expertinnen und Experten schreiben jeden Freitag über das Abenteuer Wirtschaft.