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"Idiotie" als politisches Konzept

Von Peter Moeschl

Gastkommentare
Peter Moeschl war Vorstand der 2. Chirurgischen Abteilung der Krankenanstalt Rudolfstiftung und lebt als Kulturtheoretiker in Wien (Buchtipp: "Privatisierte Demokratie. Zur Umkodierung des Politischen", Verlag Turia + Kant).
© privat

Radikaler Individualismus in der Corona-Pandemie.


"He may look like an idiotand talk like an idiotbut don’t let that fool you.He really is an idiot."Groucho Marx

Bekanntlich haben die alten Griechen jene Bürger, die sich dem öffentlichen Leben entzogen, um sich ihren privaten Anliegen zu widmen, als unpolitisch bezeichnet, also nicht als "polites", sondern als "idiotes". Wenn auch die individuelle Entscheidung, als "Idiot" zu leben, damals noch nicht so abwertend gesehen wurde, wie es das heutige Schimpfwort suggeriert, so scheint gerade die in diesem Wort ausgedrückte Abwertung der Privatperson das Problem des apolitischen Lebens in der Demokratie deutlich zum Ausdruck zu bringen.

War es in der griechisch-römischen Antike mehr oder weniger selbstverständlich, die politische Öffentlichkeit als den Ort zu verstehen, an dem sich die Einzelnen zu differenzierten Individuen entwickeln konnten (und dabei rückwirkend das Kollektiv zu einer strukturierten Gemeinschaft, einer Gesellschaft auszudifferenzieren vermochten), war es doch spätestens seit dem Siegeszug der Ökonomie über die Politik in der kapitalistischen Neuzeit - Stichwort: "Politik als Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln" - mit den grundgelegten humanistischen Vorstellungen vom Menschen als politischem Wesen bald wieder vorbei. Und das trotz des Zeitalters der Renaissance mit gewaltigen wissenschaftlichen Entwicklungsschüben und philosophischem Ausbuchstabieren einer humanistischen Weltsicht.

Spezielle Sprache in einer entpolitisierten Gesellschaft

Letztlich waren es die in dieser Entwicklung zugleich freigelegten Paradoxa, die im Rahmen der Aufklärung den Ton für die Zukunft angeben sollten. So konnten Bernard Mandeville mit seiner "Bienenfabel" und Adam Smith mit seiner "Unsichtbaren Hand" darauf verweisen, dass für eine "funktionierende" Wirtschaft eine zielbewusste gesellschaftliche Steuerung nicht erforderlich sei. Allein der Markt - so hieß es und so heißt es heute mehr denn je - vermöge alles zu regeln, und ein jeder sorge für die Gemeinschaft am besten, wenn er sich bloß um seine Privatinteressen kümmere.

Letztlich hat es also der diesem Geist entsprungene Neoliberalismus an den Tag gebracht: Die allein für sich sorgende und als solche zur Ideologie erhobene "Idiotie", ein (selbst)bewusster "Idiotismus", sei, so meint man, nicht nur ein mögliches, es sei das bestmögliche politische Vorgehen, um dem Kollektiv zu dienen. Mit anderen Worten: Keine Politik sei die beste Politik.

Dass man in einer derart entpolitisierten, also "idiotisierten" Gesellschaft eine spezielle Sprache braucht, um sich - zumindest populistisch - verständlich zu machen oder auch nur durch ein das Bewusstsein der Bürger unterlaufendes Nudging sein Ziel zu erreichen, ist die Kehrseite solch einer apolitischen Politik im Rahmen der Demokratie. Gelingt es nämlich nicht, den Bürgern eine derart apolitische Haltung in hinreichendem Ausmaß anzutrainieren, so werden auch direkte, autoritäre Durchsetzungsversuche scheitern. Man wird dann bloß einen Protest ernten, der aber - so die Ironie - selbst wieder "idiotisch" sein kann. Man denke etwa an das Paradoxon einer faschistischen Revolution, die es darauf anlegt, bornierte Privatinteressen Einzelner über den Kollektivsingular "Wir" als das soziale Anliegen aller erscheinen zu lassen . . .

Dementsprechend stecken heute die professionellen Verwalter der Politik, die Politiker der westlichen Demokratien, in erheblichen Schwierigkeiten. Deutlich zeigt sich dies derzeit am verzweifelten Umgang der Regierenden mit den obstinaten Corona-Skeptikern, die tatsächlich zu "Idioten" mutieren - quasi als Rache dafür, dass ihnen immer schon eine ich-bornierte "Idiotie" abverlangt wurde. Jedenfalls werden diese Skeptiker mittlerweile sogar für fundierte wissenschaftliche Argumente unzugänglich.

Impfverweigerung als Privatangelegenheit

Auch moralische Interventionen, wie die humanitären Appelle, man solle, wenn schon nicht an den eigenen, so doch an den Schutz der anderen denken, verhallen ungehört. Und das selbst dann noch, wenn sie mit "Schnäppchenangeboten" und anderen persönlichen Vorteilen für die konsumorientierten Einzelnen verbunden werden. Der dabei zum Ausdruck kommende quasi natürliche Egoismus, der sich hier Bahn bricht, ist gewiss kein zivilisatorisches Ruhmesblatt. Vielmehr aber sollte uns jener Egoismus zu denken geben, der sich nicht nur amoralisch geriert, sondern auch in seinen Ansprüchen jedem Systemdenken und jeder dafür erforderlichen Selbstreflexion Hohn spricht.

So ist dieser blinde Egoismus nicht einmal in der Lage, die steigende Gefahr für unser Gesundheitssystem, ja die Gefahr eines umfassenden Systemzusammenbruchs unserer zivilisatorischen Errungenschaften überhaupt nur in Rechnung zu stellen. Und das gerade in Bezug auf die mit den derzeit explodierenden Infektionsraten ebenfalls rasant steigenden Virusmutationen, die das Kollektiv, letztlich also die gesamte Menschheit, unmittelbar bedrohen. Statt sich dessen bewusst zu werden, betrachten viele Impfgegner die Impfverweigerung noch immer als ihre höchstpersönliche Privatangelegenheit, bei der der Staat nicht mitzureden habe, und es fragt sich mittlerweile, wie es in unseren Breiten einmal gelingen konnte, umfassende gesetzliche Regelungen wie die Straßenverkehrsordnung problemlos zu implementieren . . .

Liegt es bei einem solcherart verabsolutierten Individualismus, wie ihn die Impfgegner an den Tag legen, nicht nahe, das Phänomen "Idiotie" wie üblich als eine bloße Frage der Intelligenz zu betrachten? Nein, denn es ist - jedenfalls primär - keine Frage mangelnder Klugheit, es ist eine Frage der Borniertheit, wie sie auf praktisch jedem intellektuellen Niveau in Erscheinung treten kann. Als solche vermag die "Idiotie" sogar systematische, ja systemische Züge anzunehmen. Mitunter nämlich kann sie sogar in Gestalt einer politisch dysfunktionalen Systemgrundlage die gesamte Gesellschaftsordnung dominieren - man denke hier wieder an den Faschismus in seinen verschiedenen Formen, wie er als "autoritärer Sündenfall" der Demokratie in Erscheinung tritt . . . Und bekanntlich darf - so der Sozialphilosoph Max Horkheimer -, wer vom Faschismus redet, vom Kapitalismus nicht schweigen.