Zum Hauptinhalt springen

Ohne Angst keine Erkrankung?

Von Ernest G. Pichlbauer

Gastkommentare
Ernest G. Pichlbauer ist unabhängiger Gesundheitsökonom und Publizist.
© privat

Eine Replik auf Christian Felbers Gastkommentar zu Pandemie und Gemeinwohl-Ökonomie.


Meinung - was ist das? Meinung ist das, was am Ende eines logischen Denkprozesses, einer Überlegung steht. Jeder logische Denkprozess nimmt seinen Anfang bei vorher festgelegten Axiomen, die selbst, so ist die Regel, nicht hinterfragt werden können. Axiome sind immer willkürlich, was theoretischen Naturwissenschaftern Probleme bereitet, weil diese keinen freien Willen wollen. Für uns praktische Menschen bleibt der freie Wille, der zu freien Meinungen führt. Und für unser Zusammenleben ist es wichtig, diese Meinungen auch frei auszutauschen.

Die Pandemie, eigentlich ein medizinisches (nein, nicht ärztliches!) Thema, hat zu massenhaft Meinungen geführt, eher selten von Epidemiologen, die in ihren Überlegungen von epidemiologischen Axiomen ausgegangen wären. Ziemlich jeder hat seine Meinung, aber nicht jeder hat eine breite Bühne erhalten, sie kundzutun; aber einige doch. Und so haben wir die Meinungen von Museumsdirektoren, Schauspielern, klar auch Virologen, Umweltmedizinern, Internisten, Zahnärzten, aber vor allem von Politikern gehört. Allen ist gemein, dass sie ihre Axiome aus ihrer Welt heranziehen, um sich ihre Meinung zu bilden, ein Virologe genauso wie ein Umweltmediziner, der Kanzler oder ein Tänzer.

Bei den Virologen ist klar, dass die Axiome rund um konkrete, individuelle, infizierte Patienten festgelegt wurden: Das Virus infiziert Menschen, es verursacht Covid-19. Daher: Will man Covid-19 verhindern, muss die Infektion verhindert werden. Aus dieser Ecke kommt die epidemiologisch immer schon (diplomatisch ausgedrückt) sehr umstrittene Idee des "No-Covid". Aber auch sie hat Anhänger, die sich in der "Zero-Covid"-Bewegung tummeln. Beim Kanzler ist das Axiom leicht erkennbar: Was meine Wähler wollen, das mache ich. Also haben wir eben jene Maßnahmen, die laut Meinungsumfragen seine Wähler erwarten. Epidemiologische Axiome wurden nie zugrunde gelegt - wenn sie trotzdem berücksichtigt wurden, dann eben nur zufällig, weil sie, wie auch immer, zur Meinungsbildung seiner Wähler geführt haben.

Aber welches Axiom hat der Gemeinwohl-Ökonom und Tänzer Christian Felber? In seinem Gastkommentar ("Die gesellschaftliche Spaltung beenden", "Wiener Zeitung" am 9. September) meinte er: "Ein Thema erhielt über Nacht überproportionale, fast monopolhafte Aufmerksamkeit, die bis heute andauert, obwohl die wissenschaftliche Grundlage für das Maß der Angstmache nicht nachgeliefert wurde. Auf Basis von Angstmache erlassen viele Regierungen unverhältnismäßige Maßnahmen, mitgetragen von einem (verängstigten) Teil der Bevölkerung."

Welche Axiome müssen hinter so einer Meinung stehen?

1. Aufmerksamkeit ist ein handelbares Gut, über das jemand eine Verfügungsmacht besitzen kann: Irgendjemand kann daher auch ein Monopol auf Aufmerksamkeit haben.

2. Ein monopolhafter Aufmerksamkeitsinhaber bedient sich der Regierungen.

3. Angst ist eine messbare Größe, die als proportionale Wirkung einer Ursache, der Angstmache, auftritt.

4. Die Angstmache, ebenfalls eine messbare Größe, ist in bestimmbarem Maß als Machtinstrument eines Aufmerksamkeitsinhabers einsetzbar.

"Deep State"-Marionetten

Mit diesen skurrilen Axiomen ließe sich die obige Meinung ebenso erklären wie die anschließenden Versöhnungsangebote. Sie legen einen "Deep State", also einen Staat im Staate, fest, dem es um Macht geht, gebildet von Hintermännern - hier muss ich mutmaßen: bösartige Konzernbosse in dunklen Hinterzimmern -, die Regierungen als Marionetten einsetzen. Wäre es anders, wären, wie der Autor ausführt, ja bei anderen, wichtigeren Themen vergleichbare Maßnahmen gesetzt worden, "zum Beispiel Luftverschmutzung, durch die im Jahr 2020 laut offizieller Statistik mehr Menschen in der EU gestorben sind als an Covid-19". Solche Maßnahmen gab es nicht, womit eben bewiesen ist, dass es um etwas ganz anderes geht - nämlich um Macht der Hintermänner.

Und weil es nicht um die Wahrheit oder "wichtigere Themen", sondern nur um deren Macht geht, "reiht sich beim Aufbau des Angst-Narrativs Ungereimtheit an Ungereimtheit", die aber von kaum jemandem erkannt werden, weil eben der "Deep State" monopolhafter Aumerksamkeitsinhaber ist und diesen Ungereimtheiten keine Aufmerksamkeit widmet. Und wie macht er das? Mit seinen Marionetten, die die "Kritiker der Regierungsmaßnahmen diffamieren und nicht auf Augenhöhe am Diskurs beteiligen". Warum der monopolhafte Aufmerksamkeitsinhaber Corona als Thema wählt, bleibt unklar. Er könnte ja jedes beliebige Thema heranziehen und Regierungen zum Angstmachen einzusetzen - vielleicht ist dieser Monopolist aber an einer weltweiten Angstmache interessiert und brauchte dazu ein weltweites Thema: eine Pandemie.

Schauen wir uns die Vorschläge an, die zur Versöhnung der gespaltenen "Zwei-Klassen-Gesellschaft mit Stigmatisierung und Ausgrenzung der neuen Paria" dienen sollen.

Um die "einseitige Angstmache durch Corona-only-Dashboards" zu beenden, müssen durch den Staat (der aber zuerst dem "Deep State" entrissen werden müsste?), Dashboards für zumindest die zehn größten Gesundheitsgefahren veröffentlicht werden. "Dazu alle Folgeschäden und -kosten der Maßnahmen. Das Ziel ist die Förderung des demokratischen Gesundheitsverständnisses der Ottawa-Charter."

Aha! Krankheiten sind kein medizinwissenschaftlich erklärbares Phänomen, sondern Ausdruck eines demokratischen Gesundheitsverständnisses. Die Ottawa-Charta, auch wenn hier genannt, kann damit nichts zu tun haben, weil es dabei um Gesundheitsförderung geht, nicht um Gesundheitsverständnis. Deswegen heißt sie auch Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. Der Autor schlägt also vor, ein völlig neues Krankheitsmodell zu etablieren: Krankheiten sind eine Störung (der Seele, der Feinstofflichkeit, der Quintessenz, des Kosmos?), die durch Angst entsteht. Sie sind heilbar, wenn demokratisch beschlossen wird, dass es keinen Grund zur Angst gibt.

Nimmt man dieses neue Krankheitsbild als Grundlage, werden auch andere "Versöhnungsschritte" verständlich. Etwa der, dass es umfassender Aufklärung über das menschliche Immunsystem, die Rolle von Bewegung, Ernährung, Nähe und Berührung sowie den Abbau von Stress und Angst bedarf; oder der, dass Ivermectin, Artemisinin und andere Medikamente sowie Vitaminpräparate und auch Homöopathie stärker zu beleuchten sind, um Alternativen oder Verbündete zur Impfung zu schaffen.

Klar, dass Anti-Wurm- und Anti-Malaria-Mittel aufgezählt werden, es waren und sind die Wohlfühl-Wundermittel der "Deep State"-Erschreckten. Und Vitamine sind das Zentrum der Orthomolekularen Medizin, deren Wirkung, gleich wie in der Homöopathie, naturwissenschaftlich einfach nicht belegbar ist - doch unter der Voraussetzung, dass Krankheiten eigentlich nur durch die vom "Deep State" gemachte Angst verursacht sind, ist klar, dass diese Alternativen keine Wirkung zeigen können (obwohl sie in Wahrheit natürlich da ist), weil der "Deep State" ja das Aufmerksamkeitsmonopol hat und seine Marionettenregierungen es nicht zulassen, dass ein anderes, ein wahres Krankheitsmodell aufkommt.

Zum guten Leben zwingen

Um sicherzustellen, dass der Staat, nachdem er als Unrechtsstaat entlarvt und durch einen neuen ersetzt wurde, hinkünftig nicht mehr vom "Deep State" gelenkt wird, sondern nur tut, was der Autor vorschlägt, muss er dessen Postwachstums-, Kreislauf- und Gemeinwohl-Ökonomie einführen. Denn nur diese ist eine effektive Zoonosen-Prävention. Bis das soweit ist, runden "Versöhnungstische sowie Bürgerinnen- und Bürgerräte zur Erarbeitung demokratischer Corona-Strategien, die einer Volksabstimmung unterzogen werden", das Bild ab.

Ich übersetze das jetzt mal auf sehr kurz und polemisch: Ihr Unwissenden, die ihr geimpft seid, wir, die Wissenden, sind euch deswegen nicht böse - ja klar, ihr habt euch von einem "Deep State" reinlegen lassen - aber wenn Ihr euch jetzt mit uns, die wir eben mehr Wissen, von diesem Deep State lossagt, dann werden wir gemeinsam eine schöne neue Welt errichten, in der es auch keine Krankheiten mehr gibt, weil die Angst, Ursache aller Krankheiten, demokratisch abgeschafft wird.

Es ist ja nicht so, dass es nicht eine Fülle merkwürdiger Meinungen gäbe, allen voran in der Regierung, die wirklich wenig von evidenzbasiertem Vorgehen hält. Aber ein machtorientierter Politiker unterliegt wenigstens einer demokratischen Kontrolle. Aber einem Heilsversprechen, mit einer als Versöhnungsangebot zwischen den "Verschwörungstheoretikern", "Corona-Leugnern", "Aluhutträgern", "Covidioten" und ihren Feinden getarnten Agenda sollte in einer seriösen Zeitung keine Bühne gegeben werden.