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Wer füllt das deutsche Vakuum?

Von Wolfgang Merkel

Gastkommentare
Wolfgang Merkel ist Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Senior Scholar am Democracy Institute der Central European University in Budapest.
© WZB / David Ausserhofer

Nach 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels ist ihr wahrscheinlichster Nachfolger Olaf Scholz.


Deutschland hat gewählt. Der Gewinner waren die Sozialdemokraten. Die Christdemokraten fielen auf ein historisches Tief, die Grünen gewannen weniger an Wählern dazu als erwartet, die FDP wurde leicht gestärkt, die AfD blieb bei leichten Verlusten relativ stabil, und die Linke wurde halbiert. Nach zu langen 16 Jahren Regierungszeit von Angela Merkel trat die ewige Kanzlerin nicht mehr an. Obwohl sie nach wie vor die beliebteste Politikerin im Lande war und ist. Dadurch ist ein Vakuum entstanden.

Die alten Granden der CDU hatten wissentlich den unpopuläreren Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet (CDU), gegen Bayerns populären Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) in der Union durchgeboxt. Sie wollten Söder als Kanzlerkandidaten verhindern, da sich sonst die Machtachse in der Union von Berlin nach München, von der CDU zur CSU verschoben hätte. Sie hatten wohl 3 bis 4 Prozent Wählerverluste einkalkuliert - dass daraus aber eine Erdrutschniederlage für die Union werden würde, hatten die beratungsresistenten Herren Schäuble, Bouffier und Merz nicht für möglich gehalten.

Schon vorher hatten die Grünen in einer Art politischer Krönungsmesse Annalena Baerbock zu ihrer Kanzlerkandidatin gekürt. Überhaupt eine eigene Kanzlerkandidatin zu nominieren, erschien vor dem Hintergrund des grünen Wahlergebnisses von 2017 (8,9 Prozent) als schiere politische Hybris. Allerdings legitimierte sich diese strategische Entscheidung aus dem kometenhaften Aufstieg der Grünen in den Meinungsumfragen, die sie noch im Mai bei 26 Prozent taxierten.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz machte keine Fehler

Die SPD hatte frühzeitig ihren Kandidaten ausgewählt: Olaf Scholz. Der sozialdemokratische Finanzminister galt vielen in der Wählerschaft als fähiger Experte mit internationaler Reputation. Damit trat er in die großen Fußstapfen des Hanseaten Helmut Schmidt, ohne dessen rhetorische Schärfe und intellektuelle Arroganz zu imitieren. Scholz war freundlich, ruhig, aber bestimmt. In der Partei verkörperte er das Zentrum mit einer leichten Tendenz zum rechten Flügel. Er war der Einzige, dem man den Zusammenhalt einer unruhigen SPD im Niedergang zutraute. Und er hielt dieses Versprechen.

Scholz machte keine Fehler. Aufgrund der zusätzlichen Fehler und Verfehlungen von Laschet und Baerbock erschien er rasch als der einzig wählbare Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Man muss es so deutlich sagen: Es war primär ein Wahlsieg des Olaf Scholz und nicht einer der SPD als Partei. Ob dies einen nachhaltigen Verstärkungseffekt auf die Partei haben wird, hängt vor allem von zwei Dingen ab: der Lösung der Koalitionsfrage und der Regierungsperformanz.

Deutschlands Parteiensystem hat sich "europäisiert". Das heißt, es gibt im Bundestag nicht nur drei oder vier Parteien, sondern sechs beziehungsweise sieben (wenn man CDU und CSU separat sieht). Zwei Parteien genügen da nicht mehr zum Regieren. Das spiegelt den Niedergang der Volksparteien. Selbst eine erneute große Koalition, die niemand mehr will, wäre die allerkleinste aller kleinen denkbaren Koalitionen. Groß ist da nichts mehr. Deshalb stehen nur zwei realistische Koalitionsoptionen zur Disposition: Jamaika (CDU/CSU, Grüne, FDP) und Ampel (SPD, Grüne, FDP).

Käme eine grün-konservative Jamaika-Koalition zustande, würde der Wahlsieger SPD paradoxerweise in die Opposition verbannt. Das wäre der GAU für die deutschen Sozialdemokraten. Es wäre die Situation, aus der keine Übergreifeffekte von Wahlsieger Scholz auf die Partei übergingen. Im Gegenteil, da drohten Grabenkämpfe zwischen der Linken und dem Zentrum wie dem rechten Flügel der Partei aufzubrechen. Flügelkämpfe und politische Gräben in einer Partei werden in Deutschland aber schon immer mit herben Wählerverlusten bezahlt.

Das Problem in einer Ampel-Koalition ist die FDP

Bleibt die wahrscheinlichste Option: Rot, Gelb, Grün - die sogenannte Ampel. Zwischen Grünen und der SPD gibt es starke programmatische Überlappungen: in der Finanzpolitik, Sozialpolitik und der Arbeitsmarktpolitik. In der Klimapolitik ist die Übereinstimmung geringer, als manche Beobachter annehmen. Die Grünen lösen Konflikte zwischen Klima und Beschäftigung auch kurzfristig meist zugunsten einer radikaleren Klimapolitik auf. Die Sozialdemokraten tun dies eher umgekehrt.

Der Braunkohlebergbau in Deutschland soll laut SPD und dem in der großen Koalition ausgehandelten Kompromiss 2038 erfolgen. Die Grünen wünschen den Ausstieg möglichst schon vor 2030. Die SPD verfolgt das Projekt eines sozial verträglichen und technologiegetrieben Kurses im Kampf gegen die globale Erderwärmung. Die Grünen setzen auf Verzicht, Regulierung und Verbote. Dennoch, auf all diesen Gebieten sind Kompromisse denkbar. Selbst in der Außenpolitik, in der sich die Grünen der Illusion einer Konfrontationspolitik gegenüber Russland und China hingeben, die Sozialdemokraten aber eher realistisch Willy Brandts Vermächtnis "Wandel durch Annäherung" folgen. Der Wille zur Macht eint aber beide Parteien.

Das Problem in einer Ampel-Koalition werden die Liberalen sein. Da gibt es erhebliche Differenzen zwischen der FDP auf der einen sowie den Grünen und Sozialdemokraten auf der anderen Seite. Dies gilt für das Verhältnis Markt - Staat, Deregulierung - Reregulierung, Sparpolitik - Ausgabenpolitik, Steuern runter - Steuern rauf, Selbsthilfe - Sozialstaat, kein Mindestlohn - Anhebung des Mindestlohns. Zudem müssen die Liberalen fürchten, in eine Sandwich-Position zwischen zwei links-progressiven Parteien zu geraten. Sie müssen befürchten, von Grünen und SPD in der konkreten Politik Formulierung in die Klemme zu geraten und nicht die Erwartungen ihrer Wählerklientel zu erfüllen. Hier werden Grüne und SPD Zugeständnisse machen müssen, sonst kommt die Ampelkoalition nicht zustande.

Die Zeiten der SPD als Volkspartei sind vorbei

Für die nähere Zukunft der SPD kommt es darauf an, gute Politik in der Regierung zu machen: die Ungleichheit zu reduzieren, das soziale Aufstiegsversprechen endlich wieder umzusetzen, in der Klimapolitik ein exportfähiges progressiv-technologisches Wachstumsprojekt zu entwickeln, international einen Club der Klimapolitik-Willigen voranzutreiben und die innere wie äußere Sicherheit zu stabilisieren. Gelingt dies und bleibt die Partei einig, in der diskursiv gebotenen Vielfalt, kann der Scholz-Bonus auch auf die Partei überspringen. Damit muss die SPD nicht wieder Volkspartei werden. Diese Zeiten sind vorbei. Sie kann aber ihren Wählern, den Bürgern Deutschlands und Europa beweisen, dass progressive Politik auch in Zeiten der Globalisierung und des Klimawandels gelingen kann.